Lynne Viola The Unknown Gulag. The Lost World of Stalin’s Special Settlements. Oxford Uni­versity Press Oxford, New York 2007. XXV, 278 S., 1 Kte, s/w-Abb., 4 Tab.

Während die Studien zum Gulag inzwischen kaum noch zu zählen sind, hat das Schicksal der Sondersiedler bisher vergleichsweise wenig Auf­merksamkeit auf sich gezogen. Mit der vorliegenden Monographie will Viola dies ändern. Sie profitiert dabei von ihrer umfassenden Kennt­nis des relevanten Archivmaterials und ihrer aktiven Beteiligung an dem vor kurzem abge­schlossenen Editionsprojekt von Quellen über das Schicksal der russischen Bauern (Tragedija so­vjet­s­koj derevni. Kollektivizacija i raskula­či­vanie. Dokumenty i materialy 1927–1939. 5 Bde. Moskva 1999–2006; in englischer Sprache bis­her erschienen: Lynne Viola [u.a.] [Hrsg.] The Tragedy of the Soviet Countryside. War Against the Peasantry 1927–1930. New Haven 2005). Sie verzichtet in ihrer Monographie auf einen analytischen Zugang und formuliert als Ziel, die Geschichte des „anderen Ar­chi­pel“ der kulakischen Sondersiedler zu erzählen, „to restore the voices of a people that Stalin and the Communist Party attempted to silence“ (S. 10).

Der erste Teil der Studie ist der Vernichtung der Kulakenwirtschaften gewidmet (S. 13–88). Geschildert werden die politische Entscheidungs­findung Anfang 1930 und der zunächst erfolglose Kampf der OGPU um die Lenkung der Kampagne. Es folgt die Beschreibung des chaotischen und unkontrollierten Ablaufs der Deportationen. Die hohe Zahl der Opfer in den Aufnahmegebieten war dem Fehlen jeglicher Vorbereitung von Transport und Ansiedlung geschul­det. Weiter werden die nach dem zeitweiligen Abbruch der Zwangskollektivierung im Früh­jahr 1930 angeordneten Korrekturmaßnahmen behandelt, wobei Viola am Beispiel der Bergavinov-Kommission (S. 61–72) überzeugend die politische Instrumentalisierung dieser Aktion durch die Akteure beschreibt. Die elementarste Unterstützung der Aufnahmegebiete mit Lebensmitteln, Transportgerät und Baumaterialien aus dem Zentrum zur Ansiedlung der Deportierten unterblieb auch dann noch, als der OGPU die Verantwortung übertragen wurde. Viola betont den Kontrast zwischen den utopisch anmutenden Direktiven zu Siedlungsplänen und Fristen und der verzweifelten Lage vor Ort. Bedauerlich ist, dass Viola die Mitte 1931 angeordnete, noch umfangreichere zweite Deportationswelle, mit der die Kollektivierung zum Abschluss gebracht werden sollte, übergeht, obwohl diese vollständig unter Leitung der OGPU durchgeführte Aktion die eigentlichen politischen Ziele noch deutlicher hätte werden lassen.

Der zweite Teil der Darstellung ist dem Leben und der Arbeit in den Sondersiedlungen gewidmet (S. 91–181). Dabei werden die Lagerkommandanten in den Blick genommen und die aus dem hohen Anteil nichtarbeitsfähiger Personen unter den Deportierten erwachsenen Probleme thematisiert. Auch wird auf der Grundlage von Berichten Überlebender auf das verbreitete Phänomen der Flucht aus den Ansiedlungspunkten eingegangen. Behandelt werden weiter der Hunger in den Sondersiedlungen 1932/33 und die danach einsetzende allmähliche Stabilisierung der Lage einschließlich der Ansätze zur Rehabilitierung einzelner Deportierter, ohne dass diesen die Rückkehr in die Heimat gestattet wurde. Ausführlich geht Viola auf die schulische Versorgung der Kulakenkinder ein und schildert die erlebte Diskriminierung auch derjenigen, die durch ihre weitergehende Schulbil­dung aus den Deportationsgebieten entkamen. Unter der etwas irritierenden Bezeichnung „Zwei­te Dekulakisierung“ zeigt sie auf, dass Ver­haftungen und Massenerschießungen nach dem Befehl Nr. 447 zwischen der Verabschiedung der Neuen Verfassung und den ersten „frei­en und geheimen“ Wahlen auch bereits in den Sondersiedlungen isolierte Kulaken betrafen.

Violas Behauptung, sie betrete Neuland, und die Sondersiedlungen seien ein „unknown Gulag“ gewesen, trifft so nicht zu (S. 249–252). So hat es in der Sowjetzeit durchaus Forschungen zum Schicksal der Kulaken gegeben, und mit den Russlanddeutschen war auch eine Diaspora vorhanden, die sich ihrer erinnerte (N.A. Iv­nic­kij Klassovaja bor’ba v derevne i likvidacija ku­la­čestva kak klassa (1929–1932 gg.). Moskva 1962; Otto Auhagen Die Schicksalswende des rußlanddeutschen Bauerntums in den Jahren 1927–1930. Leipzig 1942; vgl. auch Stephan Merl Bauern unter Stalin. Die Formierung des sow­jetischen Kolchossystems 1930–1941. Berlin 1990, S. 71–103.). Das von Viola ausgewertete Archivmaterial über das Management der Deportation durch die Geheimpolizei, Stalin und die regionalen Behörden war zwar bisher nicht zugänglich. Über die Motivation der Deportation und das Schicksal der Kulakenfamilien verrät es aber nichts, was uns nicht ohnehin bekannt war. Überraschend erscheint allein, wie ungeschminkt die Berichte an Stalin die katastrophalen Zustände und das Massensterben in den Ansiedlungsgebieten darstellen und vor einer De­sta­bilisierung der Lage im Lande warnen. Eben das ist erklärungsbedürftig, denn Mitleid mit den Betroffenen trieb die Verfasser definitiv nicht an. Dann kann es sich aber nur um einen verzweifelten und letztlich erfolglosen Versuch gehandelt haben, aus dem Zentrum Ressourcen zugeteilt zu bekommen. Der Misserfolg selbst der OGPU dabei unterstreicht, dass Stalin das Schick­sal der Sondersiedler gleichgültig war und er den Tod der Deportierten offenbar billigend in Kauf nahm. Von dem Befehl Nr. 447 ab­gesehen, bestanden die Vorgaben allerdings nicht in ihrer Ermordung. Ärgerlich ist, dass die weißen Flecken unseres Wissens gerade zeitlich und räumlich in den von Viola ausgeblendeten Bereichen liegen. Ihre Darstellung bezieht sich praktisch nur auf den Europäischen Norden, ohne dass sie zumindest ansatzweise erörtert, wie repräsentativ die Situation hier für das Gesamtschicksal der Deportierten war. Zeitlich stehen die Jahre 1930 und 1931 im Vordergrund; über das weitere Schicksal der Sondersiedler bis in den Weltkrieg wird lediglich ein grober Überblick gegeben. Diese Mängel ergeben sich keineswegs zufällig. Sie sind auf das mir nicht erklärliche Ausmaß der Verweigerung Violas, sich mit dem Forschungsstand auseinanderzuset­zen, zurückzuführen. Glaubt sie wirklich, dass der Zugang zu Archivmaterial die bisherige Forschung ersetzt? Hat denn nicht Robert W. Davies nach jahrelanger Auswertung des Ar­chiv­materials davor gewarnt, das Rad neu erfinden zu wollen? Dabei steht außer Frage, dass Viola nicht nur mit dem Forschungsstand gut ver­traut ist, sondern zudem die betroffenen Kollegen auch persönlich kennt. Der Vielzahl der da­zu vorliegenden Studien – darunter ihrer eige­nen – zum Trotz behauptet sie: „The centrality of the peasant experience in shaping, perhaps predetermining the subsequent course of Soviet historical development has been glaringly overlooked in the historical literature of the 1930s“ (S. 191).

Viola hätte gut daran getan, sich auf das Nach­zeichnen des Schicksals der Deportierten zu beschränken. Hier liegen die Stärken ihrer Dar­stellung. Mit den ausführlichen Zitaten aus den Berichten Betroffener und den Lageberichten der OGPU gelingt es ihr, ein erschütterndes Bild des Leids zu zeichnen. Sie dokumentiert überzeugend den Ablauf der Aktion sowie den Zynismus und die Verantwortungslosigkeit der Täter. Zugleich vermag sie die Widersprüchlichkeit aller Maßnahmen zu illustrieren: die detailliert vorschreibenden und utopischen Pläne ohne Bezug zur Realität, die Anordnung der Deportation ohne die Bereitschaft, für die Ansiedlung Mittel zur Verfügung zu stellen, die Isolation der Kulakenfamilien, ohne deren Flucht und Untertauchen wirklich zu unterbinden. Indem Viola darüber hinaus aber alle möglichen Zusammenhänge suggeriert, ohne den Ver­such zu unternehmen, den Nachweis zu führen, macht sie sich angreifbar. So behauptet sie, Jagodas Projekt zur Kolonisierung der nördlichen Gebiete durch die Ansiedlung von sozial und ethnisch als Feinde eingestuften Personen sei der Ausgangspunkt des Gulag gewesen. Erst der Fehlschlag dieses Projektes habe 1933 zur Entscheidung geführt, die Lager zur Hauptform zu machen (S. 4–7, 149). Die Vertretung dieser These hätte ein Mindestmaß an Bereitschaft erfordert, sich mit dem Forschungsstand ausein­anderzusetzen. Doch Viola erwähnt nicht einmal die Kontroverse darüber, ob bei der Zwangsarbeit der politischen Repression oder der ökonomischen Nutzung der Arbeitskräfte Priorität zukam. Bei keiner anderen Aktion aber tritt der Primat der politischen Repression so eindeutig in den Vordergrund wie bei der Liquidierung der Kulakenwirtschaften. Bedingt räumt Viola ein, dass die Deportation ohne jegliche Vorberei­tung erfolgte (S. 9). Aber was berechtigt sie dann, diese als Umsetzung von Jagodas Plan zu betrachten? Anders als in den Lagern waren unter den Sondersiedlern arbeitsfähige Personen in der Minderheit, denn die meisten Familienoberhäupter wurden verhaftet und in Zwangsarbeitslager verbracht. Darf unter diesen Umständen die Deportation der Kulakenfamilien wirklich als Fehlschlag bewertet werden? Stellt sie nicht vor allem eine politische Meisterleistung Stalins beim Aufbau seiner Diktatur dar? Wie sonst wäre es gelungen, zwei Drittel der Bevölkerung in die Zwangsform des Kolchos zu drängen und da­durch politisch zu neutralisieren? Allein die Wiederholung dieser Politik in den annektierten Gebieten nach 1945 und ansatzweise in Ostmitteleuropa – hier nur durch Stalins Tod vereitelt – unterstreicht, dass die Aktion als Erfolg gewertet wurde (vgl. etwa David Feest Zwangskollektivierung im Baltikum. Die Sowjetisierung des estnischen Dorfes 1944–1953. Köln, Weimar, Wien 2007. [=Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 40]; ungewollt belegt dies auch Elke Scherstjanoi SED-Agrarpolitik unter sowjetischer Kontrolle 1949–1953. München 2007, S. 425–551). Völlig unverständlich bleibt, warum Viola in dem irreführend mit „Conclusions“ über­schriebenen Schlusskapitel (S. 183–193) den Leser mit einem Sammelsurium von Stalinis­mus­in­ter­pre­ta­tio­nen konfrontiert, die zumeist nicht nur Jahrzehnte auf dem Buckel haben, sondern vor allem auch zum Verständnis der Deportation der Kulakenfamilien nichts beitragen. Da ist von der inneren Kolonisierung als Stalinschem Weg zur Moderne die Rede. Aber wel­chen Sinn macht es festzuhalten, dass die Ku­laken durch „sozialistische Arbeit“ umerzogen werden sollten? Viola belegt zumindest nicht, dass dieses Vorhaben in den Sondersiedlungen eine Rolle spielte. Prangte nicht auch über Auschwitz die Inschrift „Arbeit macht frei“? Und darf man wirklich davon sprechen, dass die Brutalität vor Ort sich ergab, weil Moskau kaum reale Kontrolle über die Siedlungen ausübte? Hatte das elendige Sterben von Hunderttausenden etwa mit „Kontrolle“ zu tun und nicht mit der Weigerung des Zentrums, Ressourcen bereitzustellen? Violas Versuch, entsprechend der offiziellen Ideologie des Regimes die Schuld den Verantwortlichen vor Ort zuzuschieben, vermag ich nicht zu teilen. Und was be­zweckt sie damit, die Sowjetunion als „schwa­chen Agrarstaat“ zu bezeichnen, von „rural undergovernment“ zu sprechen und zu behaupten, das Zentrum habe keine Kenntnis der natürlichen Verhältnisse vor Ort gehabt (S. 188–189), um schließlich (S. 190) festzustellen, dass Stalins Staat das gewaltige Territorium nur mittels Repression regieren konnte?

Stephan Merl, Bielefeld

Zitierweise: Stephan Merl über: Lynne Viola The Unknown Gulag. The Lost World of Stalin’s Special Settlements. Oxford Uni­versity Press Oxford, New York 2007. ISBN: 978-0-19-538509-0, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Merl_Lynne_Unknown_Gulag.html (Datum des Seitenbesuchs)