Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 500-501

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

David Brandenberger: Propaganda State in Crisis. Soviet Ideology, Indoctrination, and Terror under Stalin, 1927–1941. New Haven [etc.]: Yale University Press, 2011. XIV, 357 S., 24 Abb. ISBN: 978-0-300-15537-2.

Der Verfasser nimmt die sowjetische Ideologie ernst und zeichnet ihre Entwicklung und die Entfaltung von Propaganda und Indoktrinierung vom Zeitpunkt der Kriegsangst 1927 bis zum Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion überzeugend nach. Hierbei kritisiert er den sozialgeschichtlichen Zugang, welcher die sowjetische Gesellschaft zu sehr „normalisiert“ und die Bedeutung der Ideologie als einer zentralen Triebkraft des Regimes unterschätzt habe. Brandenberger stützt sich auf einen interdisziplinären Zugang zu Propaganda, Kunst und Kultur. Er nutzt eine umfangreiche Literatur sowie Archivquellen, die sowohl eine Perspektive von oben erhellen als auch in Form von erhaltenen Tagebüchern, Memoiren und Interviews mit emigrierten Sowjetbürgern eine Perspektive von unten gestatten. Neben Printmedien untersucht er ebenso Filme. Brandenberger verwendet den Terminus des Propaganda-Staates nicht abwertend, sondern nach seinen eigenen Worten neutral. Zweifelsohne war der Propaganda-Staat ein wesentliches Element des Stalinismus und überhaupt der sowjetischen Geschichte. Somit ist das vorliegende Werk relevant und wichtig.

Während Brandenbergers Arbeit bei der Nachzeichnung der Entwicklung von Ideologie und Propaganda viel Neues liefert, hat sie einen entscheidenden Schwachpunkt, nämlich die weitgehende Ignorierung des sozialgeschichtlichen Kontextes. Der Terror erscheint, aber die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die Hungersnot, die allgemeinen Versorgungsengpässe oder gesunkenen Realeinkommen wegen der Industrialisierungspolitik tauchen praktisch nicht auf. Das Leben der Bevölkerungsmehrheit wurde im Untersuchungszeitraum wahrlich auf den Kopf gestellt. Propaganda, Ideologie und Indoktrinierung haben stets zwei Seiten, die Produktion und die Rezeption. Bezüglich der Rezeption genügt es nicht, einzelne Tagebücher oder Spitzelberichte zu zitieren. Damit Propaganda wirken kann, muss sie die Lebenswirklichkeit widerspiegeln, glaubhaft sein und auch geglaubt werden wollen. Die Vorstellung, man könne mit geschickter Propaganda (oder Reklame) einfach jede Botschaft an den Adressaten bringen, ist überaus naiv. Mit anderen Worten, Stalins Propaganda hätte um vieles professioneller sein können; angesichts der Realitäten des Alltags hätte sie dennoch schwerlich breitere Bevölkerungsschichten mobilisieren können. Brandenberger aber, der den sozialhistorischen Zusammenhang vermutlich bewusst weitgehend außer Acht lässt, behauptet gerade, dass eine geschicktere Propagandapolitik ein weitaus höheres Mobilisierungspotenzial eröffnet hätte. Hier hat der Rezensent starke Zweifel.

Die große Stärke des Buches liegt dagegen im detaillierten Darstellen der Entwicklung der Propagandamaßnahmen im Rahmen von elf Kapiteln. Hierbei werden zahlreiche, auch unter Fachleuten vergessene Persönlichkeiten, Bücher, Broschüren und Filme untersucht, was die Lektüre mitunter sehr interessant macht. Im ersten Jahrzehnt ihrer Herrschaft scheiterten die Bol’ševiki laut Brandenberger noch daran, dass ihre Botschaften oftmals zu abstrakt und komplex für eine eher ungebildete Bevölkerung waren. Deshalb machten sich Parteihistoriker und Propagandisten auf die Suche nach einer verwertbaren Parteigeschichte. Außerdem galt es, das sowjetische Experiment zu personifizieren. Hier bestand das Problem, die Bedeutung von Persönlichkeiten in einem materialistischen ideologischen Rahmen zu lösen. Aus solchen Quellen erwuchs der detailliert inszenierte Stalin-Kult, auch wenn es nicht leicht war, eine geeignete Biographie des Parteiführers zu verfassen. Weitere Heldenfiguren aus der Parteispitze, der Armee und der Bevölkerung traten an seine Seite, die in Filmen und Printmedien als solche konstruiert wurden. Ein Beispiel wäre der Stachanov-Kult und die daraus resultierende Stoßarbeiterbewegung. Laut dem Verfasser wurde die sowjetische Massenkultur bis Mitte der dreißiger Jahre durch populäre Helden und Vorbilder transformiert. Flankiert wurde diese Entwicklung durch die Konstruktion eines verteidigungsorientierten sowjetischen Patriotismus, obwohl Marxisten dem Patriotismus eigentlich eher ablehnend gegenüber standen. Da offizielle ideologische Arbeiten oftmals zu farblos waren, wurden Propagandisten gedrängt, populistischer und verständlicher zu schreiben. Der Inszenierung der Propaganda dienten verständlicherweise nicht nur die Medien, sondern auch Museen, Aufmärsche usw.

Einen Wendepunkt in der Entwicklung bedeutete laut dem Verfasser der Terror. Ehemalige Helden verschwanden über Nacht, bisher angesehene Autoren wurden verboten. Im Rahmen der Repressalien wurden auch zahlreiche ideologische Projekte abgebrochen und früher erschienene Texte im Falle einer Neuauflage zensiert. Der ehemals als dynamisch und kraftvoll geplante ideologische Kanon wurde nun zu einem eher langweiligen Gemisch aus Theorie, Dogma und Hagiographie. Der „Kurze Lehrgang“ der Parteigeschichte von 1938 dient in diesem Zusammenhang als gutes Beispiel. Am Ende stand der Propagandastaat, so Brandenberger, in der Krise, er war versteinert und schematisch. Es handelte sich um ein „ideologisches Fiasko“ (S. 258) und es fehlte an Mobilisierungspotenzial.

Insgesamt hat David Brandenberger eine überzeugende Studie zur Produktion von Ideologie und Propaganda in Stalins Sowjetunion vorgelegt. Ihr größter Schwachpunkt ist die Ignorierung des sozialhistorischen Kontextes der möglichen Rezeption dieser Propaganda. Wer elend lebt, lässt sich schwerlich von den utopischen Ideen jener Machthaber begeistern, die wie im Falle der Kollektivierung auch noch selbst für die Probleme verantwortlich waren. Trotz dieses Schwachpunktes ist das vorliegende Werk sehr empfehlenswert.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: David Brandenberger: Propaganda State in Crisis. Soviet Ideology, Indoctrination, and Terror under Stalin, 1927–1941. New Haven [etc.]: Yale University Press, 2011. XIV, 357 S., 24 Abb. ISBN: 978-0-300-15537-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Brandenberger_Propaganda_State_in_Crisis.html (Datum des Seitenbesuchs)

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