Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 686-688

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Baltic Eugenics. Bio-Politics, Race and Nation in Interwar Estonia, Latvia and Lithuania 1918–1940. Ed. by Björn M. Felder / Paul J. Weindling. Amsterdam, New York: Rodopi, 2013. V, 333 S., Abb. = On the Boundary of Two Worlds: Identity, Freedom, and Moral Imagination in the Baltics, 35. ISBN: 978-90-420-3722-9.

Dieser Sammelband, der aus einer Konferenz in Riga im Jahr 2009 hervorgegangen ist, schließt eine Lücke, indem er die weitgehend unbekannte Geschichte der Eugenik in den baltischen Staaten der Zwischenkriegszeit untersucht. Dabei haben die Herausgeber viel Mühe darauf verwendet, die Entwicklungen im Baltikum in den größeren historischen Kontext einzuordnen. Ein Drittel der Beiträge befasst sich deshalb mit den Nachbarländern. Auf der einen Seite ist der Band für seine durchdachte Konzeption zu loben, auf der anderen Seite bestehen jedoch auch erhebliche Schwächen.

Die Herausgeber haben die Texte nur sehr nachlässig überarbeitet. Das Englisch klingt an vielen Stellen nicht idiomatisch, und es gibt zahlreiche sprachliche und stilistische Fehler. Orts- und Personennamen sind mitunter falsch geschrieben oder treten in unterschiedlichen Schreibformen auf. Für das Russische wurden vier verschiedene Transliterationssysteme verwendet – zum Teil sogar in Mischformen und das alles auf einer einzigen Druckseite (beispielsweise S. 8), was die Identifizierung von Personen nicht gerade erleichtert. Ein einheitlicher Standard wie derjenige der Library of Congress hätte für mehr Klarheit gesorgt. Die Diakritika der baltischen Sprachen sind im Einzelfall fehlerhaft. Buchtitel oder die Namen der genutzten Archive wurden nicht immer korrekt wiedergegeben oder fehlerhaft übersetzt. In den Endnoten finden sich zahlreiche Tippfehler. Dazu treten peinliche faktische Missgriffe auf, das Zarenreich lässt man beispielsweise bis 1918 bestehen (S. 7). Eine gründlichere Bearbeitung wäre sicherlich notwendig gewesen, um die Lesbarkeit des Bandes zu erhöhen und unnötige Fehler zu vermeiden.

Die beiden Herausgeber stellen je ein einleitendes Kapitel an den Anfang, darauf folgen sechs Kapitel zur Situation jeweils eines baltischen Staates, und vier Kapitel widmen sich der Lage in den Nachbarländern. Der chronologische Rahmen wird dankenswerterweise bei Bedarf gesprengt, einzelne Autoren beziehen sich auch auf das späte 19. Jahrhundert, den Zweiten Weltkrieg oder auch auf die Nachkriegszeit. Grundsätzlich erscheint diese Konzeption gelungen, doch die Vergleichsbeispiele haben mitunter wenig Bezug zum Baltikum. Störend wirkt, dass die Herausgeber beide von „racial states“ bezüglich der baltischen Staaten schreiben. Dies erscheint dem Rezensenten als etwas übertrieben, ist die erste Assoziation bei „racial state“ doch das Dritte Reich, wie im Falle eines bekannten Buches von Michael Burleigh.

In seiner Einleitung versucht sich Björn Felder daran, einen historischen Überblick über die Entwicklung der Eugenik in den baltischen Staaten zu geben. Er beginnt mit den Einflüssen des Zarenreichs und schreitet fort mit der formellen Etablierung eugenischer Programme unter den autoritären Regimen bis zu ihrem Ende infolge der sowjetischen Annexion von 1940. Einerseits handelt es sich hier sich um eine gelungene Einführung, andererseits wurde dieser Beitrag am nachlässigsten redigiert, was zu zahlreichen missglückten Formulierungen und Fehlern geführt hat. Paul Weindling liefert anschließend den medizinhistorischen Hintergrund von ersten rassenbiologischen Untersuchungen im 19. Jahrhundert in der Region bis zu den „racial states“ der dreißiger Jahre. Hierbei fällt auf, dass der Autor kein Experte für das Baltikum ist.

Die fundierten Ausführungen Ken Kallings über die praktische Anwendung der Eugenik in Estland stehen in einem gewissen Widerspruch zu den beiden einführenden Kapiteln. Kalling betont nämlich, dass die Ideologie der Eugenik in Estland viel weiter verbreitet war als ihre tatsächliche Umsetzung und dass Rasse keine zentrale Kategorie für die estnischen Experten war. Sie mussten vielmehr versuchen zu belegen, dass die finno-ugrischen Esten überhaupt Europäer waren, und konnten nicht vom Standpunkt einer ‚überlegenen‘ Rasse argumentieren. Das 1937 eingeführte Sterilisationsgesetz erwies sich als weniger radikal als ein Entwurf von Eugenikern aus dem Jahre 1924. Im folgenden Beitrag beleuchten Kalling und Lea Heapost die Frage der rassischen Identität und der biologischen Anthropologie über den langen Zeitraum von 1800 bis 1945 in Estland. Der führende estnische Experte Juhan Aul konnte unter deutscher Besatzung während des Zweiten Weltkriegs schließlich sogar die Leitung eines neugegründeten Universitätsinstituts für Anthropologie und Rasseforschung übernehmen, wurde unter den Sowjets Professor für Zoologie und vermochte später, seine Forschungen zur biologischen Anthropologie der Esten fortzusetzen.

Björn Felder beschreibt in einem aufschlussreichen Aufsatz die Entwicklung der Eugenik und der biologischen Anthropologie in Lettland mit ihrer zentralen Figur Jēkabs Prīmanis. Offensichtlich war der lettische Weg unter dem autoritären Ulmanis-Regime radikaler als in Estland. Mit 63 dokumentierten Sterilisationen und 648 eugenisch indizierten Aborten in nur zwei Jahren (S. 127) war das Programm der negativen Eugenik anscheinend umfangreicher. Möglicherweise trifft daher die Bezeichnung „racial state“ am ehesten auf das lettische Beispiel zu. Die Nation wurde wie andernorts biologisiert und es galt, an ihrer ‚rassischen‘ Verbesserung zu arbeiten. Vladimirs Kuznecovs geht in seinem kenntnisreichen Artikel auf die Haltung führender lettischer Psychiater zu dem deutschen Sterilisationsgesetz von 1933 ein und unterstreicht die Unterschiede zum lettischen Sterilisationsgesetz von 1937. Für ihn ist das lettische Modell deutlich liberaler und getragen von der Angst einer kleinen Nation vor dem Verschwinden. Ineta Lipša schließt den lettischen Teil des Bandes mit einem Beitrag über Verhütung und Aborte in der Zwischenkriegszeit ab. Hierbei untersucht sie auch die Verfügbarkeit von Literatur der Sexualaufklärung. Das demokratische Lettland legalisierte nach langer Debatte den Abort, während das autoritäre Regime ihn letztlich wieder erschwerte.

Etwas stiefmütterlich wird Litauen in diesem Band nur ein Aufsatz gewidmet. Dabei war die Situation in den lutherisch geprägten Staaten Estland und Lettland, welche auf eine gemeinsame Geschichte als baltische Gouvernements des Zarenreichs zurückblicken konnten, sehr ähnlich. Im überwiegend katholischen Litauen befand sich die Eugenik jedoch in einer komplett anderen Situation. Am beachtenswerten Beispiel des Psychiaters Juozas Blažys untersuchen Björn Felder und Arūnas Germanavičius die Entwicklung dort. Blažys forderte seit 1926 die Einführung von Sterilisationen, doch da sich das autoritäre Regime von Antanas Smetona stark auf die katholische Kirche stützte, fand das keine Zustimmung. 1935 wurde aber die eugenisch indizierte Abtreibung per Gesetz erlaubt.

Den Beiträgen zu den baltischen Staaten ist gemein, dass sie zentrale Figuren der eugenischen Bewegung ihrer Bedeutung entsprechend herausstellen, gleichzeitig die örtlichen Diskussionen in den internationalen Diskurs einbetten und die bedeutenden Einflüsse aus dem Ausland hervorheben. Eugenik und Rassenhygiene standen eben in einem Zusammenhang mir „Fortschritt“, so sehr wir heute bei dem Gedanken erschaudern mögen. Schließlich befanden sich alle drei Staaten in einem Prozess der nachholenden Modernisierung. Dass es bei den Aufsätzen mitunter zu Wiederholungen und Überschneidungen kommt, erscheint als verzeihbar.

Vier Beiträge zum internationalen Kontext runden diesen Band ab. Maciej Górny zeigt die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Erforschung des „Nationalcharakters“ in Ostmitteleuropa auf, die heute eher unter Begriffe wie historische Stereotypenforschung oder Imagologie fallen würde. Vsevolod Bashkuev untersucht ein spannendes Beispiel für die sowjetische Eugenik, den Kampf gegen die Syphilis unter den Burjaten in den zwanziger Jahren. Maija Runcis, eine führende Expertin, liefert knapp und pointiert einen Überblick über Sterilisationen im schwedischen Wohlfahrtsstaat, die anfänglich eher biologisch und später zunehmend sozial begründet wurden. Die Autorin betont berechtigterweise den Gender-Aspekt dieser Praktiken, deren Opfer in erster Linie ‚einfache‘ Frauen wurden. Volker Roelcke untersucht vier Akteure der Psychiatrischen Genetik aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und den Vereinigten Staaten über den Zeitraum von 1910 bis 1960 sowie ihre Beziehungen zur Eugenik. Es bestand ein permanenter Austausch von Ideen und die jeweiligen Agenden waren sowohl wissenschaftlicher als auch politischer Natur. So überzeugend diese vier Aufsätze auch inhaltlich sind, so fehlt doch die Verknüpfung mit der Entwicklung der baltischen Eugenik, obwohl zumindest Bashkuev und Runcis über eine gewisse Expertise in baltischer Geschichte verfügen.

Das große Verdienst des Bandes besteht darin, die weithin unbekannte Geschichte der Eugenik in den baltischen Staaten der Zwischenkriegszeit zu beleuchten. Unbeachtete Diskussionen, die ein sprachunkundiger Leser ohnehin nicht verfolgen könnte, werden hier einem breiteren Publikum vorgestellt. Ob wir angesichts des Ausmaßes von Sterilisationen, eugenisch indizierten Aborten und Versuchen der Rasseforschung von „racial states“ sprechen können, sei dahingestellt. Leider werden andere zeitgleiche Maßnahmen der „Sozialhygiene“ wie die Einrichtung von Arbeitserziehungslagern für „Arbeitsscheue“ im autoritären Estland nicht erwähnt. Wenn so viel von Rasse, Nation und Bio-Politik die Rede ist, hätten die Minderheiten in den baltischen Staaten und ihre Position stärker behandelt werden können. Der Band leidet unter einer nachlässigen Redaktion und der Tatsache, dass in einigen Beiträgen kein Bezug zum Hauptthema erkennbar ist. Der Eindruck bleibt also gemischt, dennoch ist dieses Werk für den interessierten Leser zu empfehlen.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Baltic Eugenics. Bio-Politics, Race and Nation in Interwar Estonia, Latvia and Lithuania 1918–1940. Ed. by Björn M. Felder / Paul J. Weindling. Amsterdam, New York, NY: Rodopi, 2013. V, 333 S., Abb. = On the Boundary of Two Worlds: Identity, Freedom, and Moral Imagination in the Baltics, 35. ISBN: 978-90-420-3722-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Felder_Baltic_Eugenics.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Olaf Mertelsmann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.