Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 446-448

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Klaus Gestwa: Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967. München: Oldenbourg, 2010. 660 S., 18 Abb., 2 Ktn., 17 Tab. = Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 30. ISBN: 978-3-486-58963-4.

Der Tübinger Historiker Klaus Gestwa legt mit seiner Habilitationsschrift eine Arbeit vor, die zu einem Standardwerk für die bisher wenig erforschte Technik- und Umweltgeschichte der Sowjetunion werden kann. Auf Basis reichhaltiger Quellenrecherchen in Moskau und Novosibirsk sowie einer gründlichen Kenntnis der einschlägigen Forschung untersucht der Autor im Rahmen einer Fallstudie fünf wasserbauliche Großprojekte der Nachkriegszeit: den Volga-Don-Kanal sowie das Kujbyšever, das Stalingrader, das Novosibirsker und das Bratsker Flusskraftwerk. Er beschränkt sich dabei nicht auf den im Titel angegebenen Zeitrahmen, sondern erläutert ebenso die Vorgeschichte sowie die weitere Entwicklung bis in unsere Zeit hinein. Gestwa breitet seine empirisch gesättigte Untersuchung in fünf umfangreichen, thematischen Kapiteln aus und behandelt die Bereiche Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Umwelt. Er spart dabei auch nicht mit Vergleichen außerhalb des sowjetischen Rahmens.

Der Verfasser schreibt insgesamt gut lesbar und es gibt relativ wenige Stilblüten oder Druckfehler. Allerdings übertreibt er in Einleitung und Fazit mit dem Gebrauch rhetorischer Mittel, während der Hauptteil sachlicher geschrieben ist. Was Gestwa mit „Sowjetkommunismus als gesellschaftlich beglaubigtes Wahnsystem“ bezeichnen möchte (S. 53), bleibt dem Rezensenten beispielsweise schleierhaft. Meines Wissens wurde das sowjetische System nie formell von der sowjetischen Gesellschaft bestätigt. Für einen besseren Lesefluss wäre es ebenfalls angemessener, englischsprachige Ausdrücke und Zitate ins Deutsche zu übertragen, wenn es sich nicht um feststehende Fachtermini handelt oder die Gefahr eines Inhaltsverlusts durch die Übersetzung besteht. „Inefficient, but stable“ (S. 249-250) oder „knowledge producers“ (S. 39) wirken im Fließtext daher als Fremdkörper. Das beigefügte Register ist nützlich, aber leider zu knapp gehalten, während die Illustrationen und Karten ihre Aufgabe erfüllen.

Zu loben ist die breite Vorgehensweise, die zwar Technik- und Umweltgeschichte in den Mittelpunkt stellt, aber andere Aspekte und vor allem die Frage der Energie nicht vernachlässigt. Besonders gelungen erscheinen dem Rezensenten die Ausführungen zur Kultur, in denen Gestwa auf die mediale Aufbereitung der „Stalinschen Großbauten“ eingeht, und zur Sozialgeschichte, welche das Schicksal der freien Arbeitskräfte und der Zwangsarbeiter sowie ihre Lebensbedingungen untersuchen. Die hydroenergetischen Großprojekte waren verheißungsvolle Utopie und Lagerhölle in einem. Während einige Beschäftigte dem „schnellen Rubel“ nachjagten und die Fluktuation entsprechend hoch war, mussten andere für Jahre unter primitivsten Bedingungen hausen. Teilweise konnten sie noch nicht einmal den durch ihr Bauobjekt erzeugten Strom nutzen, ebenso wenig wie ein erheblicher Teil der ländlichen Bevölkerung der Umgebung. Der Strom floss stattdessen an gleichzeitig errichtete energiefressende Industrieunternehmen.

Nachdenklich macht der Abschnitt über Umwelt, denn derartige Großprojekte werden auch heute noch durchgeführt. Im sowjetischen Fall kam es zu einem enormen Landschaftsverbrauch; wegen unzureichender Rodung des Überflutungsgebietes vergiftete faulendes Holz das Wasser der Stauseen – ebenso wie die neuen Fabriken und Siedlungen mit ihren ungeklärten Abwässern, woraus ein Trinkwasserproblem entstand. Bodenerosion im Uferbereich, die Überschwemmung fruchtbarer Anbauflächen sowie Versalzung bei fehlgeplanten Bewässerungsprojekten schädigten Natur und Landwirtschaft. Die Staudämme störten die Fischwanderung und waren zusammen mit der Wasserverschmutzung für einen Rückgang der Fischbestände und der Artenvielfalt verantwortlich. Die „saubere“ Wasserenergie hat zu ökologischen Katastrophen geführt.

Den einzigen Anlass zu ernsthafter Kritik liefern Gestwas Ausführungen zur Wirtschaft. Wie in der deutschsprachigen Sowjetunionforschung weit verbreitet, vernachlässigt er die Wirtschaftsgeschichte, aber die „Stalinschen Großbauten des Kommunismus“ waren vor allem ökonomische Projekte. Im Rahmen eines Systems staatlich fixierter Preise waren reale Kosten und Preise nicht zu ermitteln, was die enormen Fehlplanungen und die Budgetüberschreitungen teilweise erklärt. Der ungarische Ökonom János Kornai hat hierfür den Fachbegriff der „weichen Budgetbeschränkungen“ eingeführt. Die hydroenergetischen Großprojekte sollten auch Energie für den wichtigste Industriezweig der Sowjetunion und seine Zulieferer, die Rüstungsindustrie, bereitstellen. Der Kalte Krieg wird bei Gestwas Fragestellung dagegen nur im Zusammenhang mit einem Wettlauf der Systeme auf dem Gebiet der Wassernutzung erwähnt.

Der Autor folgt in seiner Darstellung den methodisch falsch erstellten Wirtschaftsstatistiken des Stalinismus und verortet somit den Abschluss des sowjetischen Nachkriegswiederaufbaus auf das Jahr 1948 (S. 77, 561), also vier oder fünf Jahre früher als im vom Krieg deutlich weniger zerstörten Westeuropa, während er sich selbst an anderer Stelle widerspricht, wenn er auf die sowjetische Hungersnot 1946-1947 eingeht (S. 230) oder auf die immer noch extrem schwierigen Lebensumstände in den fünfziger Jahren. Es kommt darauf an, welche Kriterien wir für einen Wiederaufbau anlegen, aber er wurde mit Sicherheit nicht 1948 abgeschlossen und wahrscheinlich erst später als in Westeuropa.

Die Wasserkraft verlor ihre Bedeutung mit der Erschließung der Energiereserven Sibiriens; dies erwähnt der Autor nur im Vorbeigehen (S. 97). Damit erscheint seine Argumentation bezüglich der Energieerzeugung jedoch in einem anderen Licht. Worauf Gestwa ebenfalls nicht eingeht, ist die Tatsache, dass die Sowjetunion für die Erzeugung realer Werte weitaus mehr Energie verbrauchte als kapitalistische Länder, was dadurch hervorgerufen wurde, dass ein System fixierter Preise die Knappheit von Ressourcen missachtet. Dies wiederum ist auch die ökonomische Ursache für die weitaus stärkere Umweltzerstörung im Sozialismus, denn Energie, Rohstoffe oder die Natur haben in einer sozialistischen Kommandowirtschaft keinen realen Preis, weshalb sie noch stärker ausgebeutet werden können als im Kapitalismus.

Die vom Verfasser immer wieder angeführten Rubelsummen für Baukosten müssten dem Leser in ihrem Wert erklärt werden, denn schließlich hat die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Geldreformen 1947 und 1961 durchgeführt und sowohl Perioden der Inflation als auch der Deflation durchlebt. Weiterhin werden in sowjetischen Statistiken sowohl fixierte als auch fortlaufende Preise aufgeführt. Ob ein Projekt eine Milliarde Rubel von 1948 oder eine Milliarde neuer Rubel von 1961 in fortlaufenden oder fixierten Preisen kostete, kann nämlich einen mehr als zwanzigfachen Unterschied bedeutenden. Auch würde der Leser gerne wissen, welchen Anteil des offiziellen Staatshaushaltes die Projekte verschlangen.

Trotz einiger Kritikpunkte ist das Werk Gestwas insgesamt zu loben. Ihm ist eine weite Verbreitung sowie eine im Umfang gekürzte Übersetzung ins Englische zu wünschen. Der Leser gewinnt neue Einblicke in einen faszinierenden Bereich der sowjetischen Geschichte und er wird fast immer auf dem neuesten Forschungsstand informiert.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Klaus Gestwa: Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967. München: Oldenbourg, 2010. 660 S., 18 Abb., 2 Ktn., 17 Tab. = Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 30. ISBN: 978-3-486-58963-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Gestwa_Stalinsche_Grossbauten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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