Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 679-681

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Sven Jüngerkes: Diplomaten der Wirtschaft. Die Geschichte des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Mit einem Geleitwort von Hans-Dietrich Genscher. Osnabrück: fibre, 2012. 384 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-938400-81-4.

Jubiläumsschriften sind tückisch, besonders dann, wenn sie vom Jubilar selbst in Auftrag gegeben wurden. Es besteht grundsätzlich die Wahl, entweder einen eher unkritischen Zugang zu wählen oder stärker in die Tiefe zu gehen. Im ersten Fall ist der Auftraggeber meist zufriedener, im zweiten sind es die Fachkollegen. Der Autor Sven Jüngerkes konnte für seine Darstellung der sechzigjährigen Geschichte des Ost-Ausschusses auf Aktenmaterial aus dem Umfeld dieser Institution, das anderen Historikern nicht ohne weiteres zugänglich ist, und auf Gespräche mit teilweise prominenten Zeitzeugen zurückgreifen. Weiterhin nutzte er Dokumente der Bundesregierung und einzelner Ministerien, um das Verhältnis von Wirtschaft und Politik im Osthandel besser zu beleuchten. Trotzdem kann das Ergebnis nicht wirklich überzeugen.

Jüngerkes ist nämlich kein ausgewiesener Osteuropahistoriker, auch wenn er in diesem Fach promoviert hat. Seine Darstellung beruht praktisch nur auf einer bundesdeutschen Perspektive, vor allem natürlich derjenigen des Ost-Ausschusses, angereichert mit einigen wenigen Titeln der englischsprachigen Literatur. Gibt es denn wirklich keine Arbeiten von osteuropäischen Historikern zum bundesdeutschen Osthandel? Der Verfasser ist auch kein Wirtschaftshistoriker, selbst wenn er nach eigenen Worten ein Stück bundesdeutscher Wirtschaftsgeschichte schreibt. So vermisst man schmerzlich tiefergehende ökonomische Analysen oder auch nur illustrierende Statistiken und Grafiken. Jüngerkes liefert einzig eine mitunter stark deskriptive Geschichte einer Institution. Er zeigt sie in ihrem Verhältnis zur Bundesregierung und bei ihren Aktivitäten, vor allem bei Verhandlungen, im Osten Europas. Hierbei verspielt er die Möglichkeit, die theoretische Zugänge zur Rolle von Institutionen wie beispielsweise die Neue Institutionenökonomik bieten.

Das Quellen- und Literaturverzeichnis ist gerade einmal acht Seiten lang, obwohl das Thema und die Zeitspanne von immerhin sechzig Jahren mehr Recherche erfordert hätten. Sehr viel einschlägige Literatur zum historischen oder ökonomischen Kontext wurde ignoriert. Der allgemeine Rahmen wird deshalb stellenweise sehr oberflächlich, auf einem veralteten Forschungsstand und manchmal auch fehlerhaft wie im Falle der postsozialistischen Transformation dargestellt. Der Text ist nicht immer gut strukturiert und bisweilen sprunghaft. Er liefert sehr viel Beschreibendes, besonders über Verhandlungen, und mitunter vermisst der Leser auch die nötigen Verweise auf Quellen oder Literatur. Der Stil verrät, dass Jüngerkes über längere Passagen einfach Dokumente nacherzählt. Man ärgert sich wiederholt, deutsch oder Europa zu lesen, wo bundesdeutsch oder Westeuropa gemeint sind. An anderen Stellen hat der Leser das Gefühl, eine offizielle Verlautbarung eines Wirtschaftsverbandes vor sich zu haben und keinen historischen Fachtext. Dies gilt besonders für den Zeitraum nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der ausgesprochen blass und zahm ausfällt. Anscheinend sollte keiner lebenden Persönlichkeit aus Wirtschaft oder Politik auf die Füße getreten werden.

Das Thema selbst ist eigentlich spannend. Der 1952 von Unternehmern und Wirtschaftsverbänden in enger Zusammenarbeit mit der Bundesregierung gegründete Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft sollte als eine temporäre Lösung wirtschaftliche Kontakte zu sozialistischen Ländern knüpfen, zu denen die Bundesrepublik wegen des Kalten Krieges bzw. der Folgen des Zweiten Weltkrieges keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. So konnte der Ost-Ausschuss Handelsabkommen mit der Volksrepublik China und mit Rumänien abschließen. Wegen der Hallstein-Doktrin ergaben sich weitere Betätigungsfelder in Ostmitteleuropa. Mitunter vertrat der Ost-Ausschuss also nicht nur Wirtschaftsinteressen, sondern auch die Bundesregierung. Anfangs wurden zumeist Kompensationsgeschäfte angebahnt, später erfolgte der Handel auf Valuta-Basis und war abgesichert durch Exportbürgschaften. Der Ausschuss, der lange von Otto Wolff von Amerongen geleitet wurde,  begleitete die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition ebenso wie die der Ära Kohl. In den interessantesten Abschnitten seiner Darstellung geht der Autor auf das nicht immer unkomplizierte Verhältnis des Ost-Ausschusses zur Bundesregierung ein und erhellt, wie manche Verhandlungen mit sozialistischen Ländern geführt und Abkommen schließlich geschlossen wurden.

Der Osthandel unterlag während des Kalten Krieges zahlreichen Beschränkungen. Da die Bundesrepublik ihre volle Souveränität nur schrittweise wiedergewinnen konnte und erheblich vom US-amerikanischen Wohlwollen abhängig war, unterlagen westdeutsche Wirtschaftskreise mitunter stärkeren Kontrollen und Begrenzungen als britische oder französische. Trotz dieser Einschränkungen wurde das Potential des Osthandels lange überschätzt und das tatsächliche Niveau lag erheblich unter den Erwartungen. Zwar liefert der Verfasser Daten für einzelne Jahre, doch der Leser vermisst eine kohärente Übersicht des bundesdeutschen Handelsvolumens mit dem östlichen Europa. Auf die Gewinne geht der Autor mit keinem Wort ein, dabei muss es zumindest am Anfang des Kalten Krieges eine erhebliche Risikoprämie gegeben haben. Heute ist die Bundesrepublik wichtigster Handelspartner und Investor für eine ganze Reihe von ehemals sozialistischen Staaten, wo mit Sicherheit auch gutes Geld verdient wird. Wie es dazu gekommen ist, erfährt man leider nicht aus dem vorliegenden Werk, denn die letzten 20 Jahre bleiben wie erwähnt ausgesprochen blass.

Schon im Titel bezieht sich Jüngerkes auf die diplomatische Rolle des Ost-Ausschusses, und mit Sicherheit hat er zu einer realistischeren und weniger ideologisch aufgeladenen Politik gegenüber den sozialistischen Ländern beigesteuert; trotzdem sollte kurz an die Funktion eines Wirtschaftverbandes erinnert werden. Man unterhält kein zentrales Büro, so improvisiert es anfangs auch war, und später kostenträchtige Repräsentanzen im Ausland und organisiert aufwendige Verhandlungsreisen aus altruistischen Motiven. An erster Stelle sollten gewinnträchtige Geschäfte angebahnt werden, was legitim ist und worauf sich auch Hans-Dietrich Genscher in seinem Geleitwort bezieht (S. 7). Warum muss der Verfasser bei allen wirklichen Verdiensten des Ost-Ausschusses ihn als eine fast schon wohltätige Einrichtung darstellen, wo er in der Realität an erster Stelle an profitträchtigen langfristigen Handelsbeziehungen interessiert war?

Zusammenfassend lässt sich feststellen, das dieses Werk für einen Leser konzipiert ist, der an einem unkritischen Überblick der Geschichte des Ost-Ausschusses aus der Perspektive eben jener Institution interessiert ist. Wahrscheinlich ist der eigentliche Adressat im Umfeld dieses Ausschusses zu suchen. Weiterhin verschafft dieses Buch einige neue Einblicke in die Funktionsweise des bundesdeutschen Osthandels während des Kalten Krieges.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Sven Jüngerkes: Diplomaten der Wirtschaft. Die Geschichte des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Mit einem Geleitwort von Hans-Dietrich Genscher. Osnabrück: fibre, 2012. 384 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-938400-81-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Juengerkes_Diplomaten_der_Wirtschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

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