Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 329-331

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Marta Polsakiewicz: Warschau im Ersten Weltkrieg. Deutsche Besatzungspolitk zwischen kultureller Autonomie und wirtschaftlicher Ausbeutung. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2015. IX, 249 S., 7 Abb. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 35. ISBN: 978-3-87969-402-0.

Nachdem der Erste Weltkrieg in Ostmitteleuropa für lange Zeit bisher eher stiefmütterlich behandelt wurde, führten in den letzten Jahren runde Jahrestage zu einem Anstieg des Interesses und einer Zunahme an Publikationen. Bei der vorliegenden, überaus geglückten Studie handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Dissertation von Marta Polsakiewicz. Auf einer breiten Grundlage, bestehend aus Archivdokumenten, darunter auch persönlichen Briefen oder Tagebucheinträgen der Protagonisten, und der einschlägigen Literatur gelingt es der Autorin, ihr Thema auszubreiten, ohne sich zu stark im Detail zu verlieren. Wie der Titel bereits verrät, verlief die deutsche Okkupationspolitik zwischen zwei Extremen, der Gewährung kultureller Autonomie bei gleichzeitiger ökonomischer Ausbeutung. Der Fließtext ist gut lesbar, logisch aufgebaut, und knappe Zusammenfassungen rufen das bereits Gelesene in Erinnerung. Zu kritisieren wären höchstens der leserunfreundliche Stil der Fußnoten; man muss ständig im Literaturverzeichnis nachschlagen, um zu wissen, welche Arbeit gemeint ist, sowie die Tatsache, dass einzelne Angaben unkritisch aus der Historiographie der Volksrepublik Polen übernommen wurden. Wenn beispielsweise behauptet wird, der Lebensstandard der fast 10 % Großbürger in Warschau sei während des Krieges praktisch nicht gesunken (S. 20), so erscheint dies als unrealistisch im Angesicht einer Teuerung um mehr als das Fünf­fache.

Lobenswert an dieser Arbeit ist, dass sie sich nicht nur auf Warschau beschränkt, sondern das gesamte Generalgouvernement sowie auch internationale Entwicklungen miteinbezieht. Die Autorin untersucht ihre Fragestellungen sowohl aus deutscher als auch aus polnischer Perspektive. Sie bietet eine differenzierte Darstellung und arbeitet eine breite Auswahl an Themen ab, ohne oberflächlich zu werden. Weiterhin gelingt es ihr, überzeugend darzustellen, welchen Umbruch die deutsche Besatzung in Warschau einleitete. Auch zieht sie wiederholt gelungene Vergleiche mit Ober Ost, um zu belegen, dass Warschau eine gewisse Sonderrolle in der deutschen Okkupationspolitik im Osten spielte. Ebenso arbeitet sie gelungen die Gegensätze zwischen Oberster Heeresleitung, Reichsregierung und deutscher Zivilverwaltung heraus sowie die mit dem Bündnispartner Österreich-Ungarn.

Nach einer etwas knappen Einleitung widmet sich Polsakiewicz Warschau unter russischer Herrschaft, wo ein gewisser Druck der Russifizierung spürbar war, der selbst beim Kirchenbau auftrat. Wegen der strategischen Bedeutung der Stadt, der Festung und möglicher Unruhen weilten 150.000 Angehörige des Militärs in Warschau. Während die Stadt im Reich als fortschrittlich galt, gab es offenbar keine funktionierende Stadtplanung, und wegen der Beschränkungen durch die Festung war die Bevölkerungsdichte sehr hoch. Mehr als ein Drittel der Stadtbevölkerung waren Juden, und die Autorin geht wiederholt in sämtlichen Kapiteln auf die polnisch-jüdischen Beziehungen ein. Den Konflikt zwischen beiden Gruppen nutzte der russische Staat, um sie gegeneinander auszuspielen. Bei Kriegsausbruch rief das Manifest des russischen Oberkommandierenden noch positive Reaktion hervor. Doch bald stellten sich Requirierungen, Versorgungs- und Flüchtlingsprobleme ein. Bürgerkomitees, vergleichbar mit den Zemstvos in Russland, traten auf den Plan. Seit Juni 1915 erfolgten Evakuierungen.

Das folgende Kapitel stellt das Herzstück der Arbeit dar. Es behandelt den Übergang auf die deutsche Herrschaft und die Struktur der Besatzungspolitik. Chronologisch erstreckt es sich bis zum Herbst 1916, behandelt bei einzelnen Punkten auch spätere Daten. Durch Zugeständnisse wollten die beiden deutschen Hauptprotagonisten, Generalgouverneur Hans Hartwig von Beseler, und seine rechte Hand, Bogdan Graf von Hutten-Czapski, die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen. Der Leser gerät ein wenig ins Staunen, was die Deutschen alles zur Gewinnung polnischer Sympathie taten: Ein Pole wurde zum Stadtpräsidenten Warschaus berufen, Polnisch zur gleichberechtigten Verwaltungssprache, die Schulpflicht eingeführt, die beiden Hochschulen der Stadt polonisiert, erstmals seit fünfzig Jahren ein Stadtrat gewählt, Gewerkschaften durften wieder aktiv werden, polnische nationale Feiertage wurden begangen, Infrastrukturmaßnahmen durchgeführt, das Gesundheitswesen verbessert, das Stadtbild entrussifiziert usw. Auch die Situation der Juden besserte sich. Doch dieses positive Bild hatte auch eine Kehrseite: Da das Deutsche Reich durch die alliierte Seeblockade weitgehend vom internationalen Handel ausgeschlossen war, wurden alle besetzten Gebiete gnadenlos wirtschaftlich ausgebeutet. Dies belegt die Autorin auch an ihrem Beispiel. Wenn beispielsweise zu viele Pferde ausgehoben werden, dann fehlt der Landwirtschaft ihre Arbeitskraft. Erschwerend kam noch hinzu, dass Warschau früher eher durch russische Lebensmittel als durch das Hinterland versorgt wurde. All dies führte zu einem sinkenden Lebensstandard, hoher Inflation, Unterernährung, einer anfangs hohen Arbeitslosigkeit und einem erheblichen Ansteigenden der natürlichen Sterblichkeit. Angesichts dieser Umstände erscheint es als klar, dass die deutsche Besatzungspolitik ungeachtet aller Zugeständnisse nicht die Sympathie der Polen erringen konnten. Auch war das weitere Schicksal Polens sowie seiner Grenzen unklar, sollte es ein deutscher Vasallenstaat werden, an Russland zurückgegeben oder sollte das russische Teilungsgebiet an Österreich-Ungarn angegliedert werden?

So gekonnt die Verfasserin die ökonomische Ausbeutung darstellt, versteigt sie sich doch zu der etwas verqueren Behauptung, die wirtschaftliche Schwäche sollte Polen für die Unterordnung eines Vasallenstaaten vorbereiten und Konkurrenz der deutschen Industrie ausschalten (S. 135). Dies macht weder ökonomisch noch politisch Sinn. Im Gegenteil, von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Satellitenstaates profitiert immer auch das Zentrum und eine Schwächung wirkt sich negativ aus.

Im nächsten Kapitel behandelt die Autorin den Höhepunkt der deutschen Okkupationspolitik, also den Zeitraum vom Herbst 1916 bis Herbst 1917. Im November 1916 wurde das Regentschaftskönigreich Polen proklamiert; es wurde versucht, polnische Truppen für den Kampf an der Ostfront anzuwerben, angesichts des „Weißblutens“ an der Westfront ein logischer Schritt, und auch die Juden erhielten eine eigene Proklamation. Trotzdem blieb die Stimmung eher national und antideutsch, der Okkupant verschleppte nämlich die Einrichtung der proklamierten Staatlichkeit und beutete weiter aus. Auch die Einflüsse der internationalen Entwicklungen wie der Februarrevolution und der Kriegseintritt der USA werden dargestellt.

Das letzte Kapitel widmet sich dem Ende der deutschen Herrschaft. Die Oktoberrevolution und die Brester Verträge mit der Ukraine und Sowjetrussland beeinflussten die Situation. Es kam wiederholt zu Streiks und Lohnaufständen angesichts der fortgesetzten Ausbeutung. Die Zivilverwaltung wollte Ruhe und Ordnung bewahren, die nationale und kulturelle Entfaltung fördern sowie einige Verwaltungsbereiche an Polen abgeben. Tatsächlich wurde die polnische Staatlichkeit durch die Schulung polnischer Beamter ein Stück weit vorbereitet, möglicherweise handelte es sich jedoch nur um eine Maßnahme, um zukünftig deutsches Personal zu sparen. Letztlich zögerte der Okkupant bis zuletzt, reale Macht zu übergeben. Mit der Novemberrevolution brach das Besatzungsregime endgültig zusammen, doch es erfolgte eine wohl weitgehend geregelte Übergabe der Amtsgeschäfte.

Ein kluges und ausgewogenes Fazit, eine englischsprachige Zusammenfassung, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Register runden diese Monographie ab. Diese Arbeit kann nur als überaus gelungen und empfehlenswert bezeichnet werden. Hoffentlich wird dieses Werk für die polnischen Leser auch in einer Übersetzung vorgelegt. Wer sich für Besatzungspolitik des Ersten Weltkriegs, sei es nur im Vergleich zum II. Weltkrieg, oder für polnische Zeitgeschichte interessiert, der sollte dieses Buch wirklich lesen.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Marta Polsakiewicz: Warschau im Ersten Weltkrieg. Deutsche Besatzungspolitk zwischen kultureller Autonomie und wirtschaftlicher Ausbeutung. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2015. IX, 249 S., 7 Abb. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 35. ISBN: 978-3-87969-402-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Polsakiewicz_Warschau_im_Ersten_Weltkrieg.html (Datum des Seitenbesuchs)

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