Torsten Wehrhahn Die Westukrainische Volksrepublik. Zu den polnisch-ukrainischen Beziehungen und dem Problem der ukrainischen Staatlichkeit in den Jahren 1918 bis 1923. Weißensee Verlag Berlin 2004. 400 S.

Der Berliner Historiker Torsten Wehrhahn beschäftigt sich in seiner Dissertation mit einem weithin vergessenen Staat, der jedoch einen festen Platz in der Traditionsbildung der unabhängigen Ukraine einnimmt. Das Ukrainische Natio­nalkomitee proklamierte am 19. Oktober 1918 in Lemberg einen Staat auf den ethnographisch ukrainischen Gebieten des Habsburgerreiches. Die Gründung der Westukrainischen Volks­republik (Zachidno-Ukraïns’ka Narodna Respublika, ZUNR) war bereits die zweite uk­ra­i­nische Staatsbildung des Jahres 1918. Nach der Oktoberrevolution hatte die Nationalrada in Kyїv in der vormals russischen Ukraine die Ukrainische Volksrepublik (Ukraïns’ka Narodna Respublika, UNR) ausgerufen.

Im ersten Hauptteil untersucht Wehrhahn die Vorgeschichte der Westukrainischen Volksrepublik und des polnisch-ukrainischen Konflikts. In Ostgalizien war die polnische Bevölkerung zwar in der Minderheit, doch die polnischen Eli­ten dominierten das Kronland politisch, ökonomisch und sozial. Die Hauptstadt Lemberg und viele Provinzstädte waren mehrheitlich polnisch. Die Ursachen des polnisch-ukrainischen Konflikts reichten bis weit in die Vorkriegszeit zurück. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts war klar geworden, dass sich die ruthenische Bevölkerung nicht in das polnische Nationsbildungsprojekt einfügen würde. Eine russophile und eine ukrainophile Richtung kämpften um die „Seelen der ruthenischen Bauern“. 1914 hatte sich die Waagschale zur ukrainischen Seite geneigt.

Ukrainer und Polen konkurrierten um das­sel­be Territorium. Die polnischen Eliten wollten die Kontrolle über das gesamte Kronland Galizien und Lodomerien behalten, während die Ukrainophilen auf eine Teilung in einen westlichen, mehrheitlich polnischen, und einen östlichen, mehrheitlich ukrainischen Teil hinarbeiteten. Ihre führenden Politiker hofften, mit Hilfe Wiens langfristig auf legalem Weg ein ukrainisches Kronland zu erhalten und kurzfristig eine Verbesserung der nationalpolitischen Situation der ruthenischen Bevölkerung zu erreichen. Im Mittelpunkt des ersten Kapitels steht der Erste Weltkrieg, der nicht nur für die Polen, sondern auch für die Ukrainer neue politische Möglichkeiten eröffnete. Seit der russischen Februarrevo­lution hatte in beiden Nationen eine nationale Mobilisierung stattgefunden, und die Forderungen hatten sich radikalisiert. Wehrhahn weist jedoch zu Recht darauf hin, dass die wichtigsten ukrainischen Parteien selbst im Oktober 1918 noch eine austro-ukrainische Lösung favorisierten. Die im Habsburgerreich sozialisierten ukrainischen Politiker hielten lange an einer legalen Übertragung der Macht fest. Nach der Niederlage der Mittelmächte und dem daraus entstehenden Machtvakuum lief der zuvor im Habsburgerreich eingehegte polnisch-ukrainische Konflikt auf eine kriegerische Auseinandersetzung zu.

Der zweite Hauptteil beschäftigt sich mit der eigentlichen Geschichte der Westukrainischen Volksrepublik. In der Nacht zum 1. November 1918 übernahmen ukrainische Soldaten die Macht in Ostgalizien, und die ukrainischen Eliten begannen damit, eigene Verwaltungsstrukturen aufzubauen. In Lemberg widersetzte sich die polnische Bevölkerung der Staatsgründung, und ein mehrmonatiger Krieg begann. Aus dem Bürgerkrieg entwickelte sich ein Krieg zwischen den neu proklamierten Staaten Polen und West­ukrai­nische Volksrepublik. Die jüdische Bevölkerung verhielt sich in diesem Konflikt neutral. Dies wurde jedoch von vielen Polen anders perzipiert. Wehrhahn geht ausführlich auf den schrecklichen Pogrom ein, den nach dem Abzug der ukrainischen Einheiten aus Lemberg am 22. Oktober 1918  polnische Truppen an der jüdischen Bevölkerung der Stadt verübten. Den Juden wurde – fälschlich – vorgeworfen, auf polnische Soldaten geschossen und die ukrainische Seite unterstützt zu haben. Zwar gab es unter Vermittlung der Entente immer wieder Verhandlungen zwischen polnischen und ukrainischen Repräsentanten, doch nur die jeweils schwächere Seite war kompromissbereit. Wehrhahn zeigt, dass die Westukrainer schlechte Chancen hatten, ihren Staat zu behaupten. Von der Ukrainischen Volksrepublik war keine Unterstützung zu erwarten. Beide ukrainische Staaten waren existenziell bedroht, allerdings von unterschiedlichen Gegnern, was die Zusammenarbeit wesentlich erschwerte. Der Hauptfeind der Ukrainischen Volksrepublik waren die russischen Bürgerkriegsarmeen, die entweder das „eine und unteilbare Russland“ wiederherstellen oder aber die Ukraine bolschewisieren wollten; der Hauptfeind der Westukrainischen Volksrepublik waren die polnische Minderheit in Ostgalizien und der neu erstandene polnische Staat. Aber eine symbolische Handlung mit großer psychologischer Folgewirkung fand statt: der Zusammenschluss beider ukrainischer Staaten am 22. Januar 1919. Die Galizische Ukrainische Armee operierte zunächst auch auf sich allein gestellt erfolgreich, doch war ihre Niederlage besiegelt, als mehr und mehr polnische Entsatztruppen Ostgalizien erreichten. Darunter befanden sich auch polnische Legionen, die gegen den Willen der Westmächte im polnisch-ukrainischen Krieg eingesetzt wurden. Die polnische Regierung nutzte ihre militärische Überlegenheit und schuf Fakten, die die Entente nicht ohne weiteres ignorieren konnte. Polen war zudem für die Entente der wichtigere Partner. Nach ihrer militärischen Niederlage setzten die Westukrainer nun auf einen günstigen Schiedsspruch der Entente. Doch darauf hofften sie vergeblich; das Selbstbestimmungsrecht der Völker fand in Ostgalizien keine Anwendung. Nach dem Sieg der Roten Armee im Russischen Bürgerkrieg waren die Westmächte an einem starken Polen als Gegengewicht zu Deutschland und als Bollwerk gegen Sowjetrussland interessiert. Der polnische Sieg löste den polnisch-ukrainischen Streit um die Zukunft Ostgaliziens jedoch nicht. Man kann Wehrhahn zustimmen, dass der polnisch-ukrainische Krieg eine friedliche Konfliktlösung für die Zukunft erheblich erschwerte.

Der dritte Hauptteil weist über Ostgalizien hinaus. Der Diktator der Ukrainischen Volksrepublik Simon Petljura schloss mit dem polnischen Staatschef Józef Piłsudski ein Abkommen, in dem Petljura den polnischen Anspruch auf Ostgalizien anerkannte. Petljura erkannte, dass nur mithilfe des Hauptgegners der Westukrainer die Existenz eines ukrainischen Staates in der Zentral- und Ostukraine erreicht werden konnte. Doch das Unternehmen scheiterte, und der Krieg Polens gegen Sowjetrussland endete in Riga mit einem Kompromissfrieden, der keinen Platz für einen unabhängigen ukrainischen Staat ließ. Wehrhahn zeichnet detailliert die Bemühungen der westukrainischen Exilregierung nach, die Ereignisse zu beeinflussen. Aber ohne militärische Macht und politischen Rückhalt bei den Siegermächten war dies aussichtslos.

Im vierten Hauptteil untersucht Wehrhahn die Phase bis 1923. Er zeigt, dass sich große Teile der ukrainischen Bevölkerung nicht mit der polnischen Herrschaft abzufinden bereit waren, während die polnische Regierung diese Verweigerungshaltung dazu nutzte, ukrainische Staatsbedienstete zu entlassen und die Verwaltung in Ostgalizien fast vollständig zu polonisieren. Das Buch endet mit der offiziellen Anerkennung Ostgaliziens als Teil Polens durch den alliierten Botschafterrat, der die bis zuletzt gehegten Hoffnungen der westukrainischen Politiker auf Anerkennung der ukrainischen Rechte endgültig zunichte machte.

Die Monographie beruht auf umfangreichen Recherchen in ukrainischen, österreichischen und deutschen Archiven. Zahlreiche schwer zugängliche zeitgenössische Publikationen wurden ebenfalls ausgewertet. Wehrhahn hat eine verdienstvolle Studie zur Geschichte der West­ukrainischen Volksrepublik vorgelegt. Allerdings erliegt er phasenweise der Versuchung, lange Passagen aus zeitgenössischen Quellen paraphrasiert wiederzugeben. Bisweilen verschwinden die großen Linien und Zusammenhänge deshalb hinter den Einzelheiten. Wehrhahn zeichnet auch solche Initiativen ausführlich nach, die noch im Ansatz versandeten und keine Folgewirkungen hatten. Für den Spezialisten enthält das Buch jedoch wichtige, bisher unbekannte Details der Geschichte der west­ukrainischen Staatsgründung und des polnisch-ukrainischen Krieges.

Christoph Mick, Coventry

Zitierweise: Christoph Mick über: Torsten Wehrhahn: Die Westukrainische Volksrepublik. Zu den polnisch-ukrainischen Beziehungen und dem Problem der ukrainischen Staatlichkeit in den Jahren 1918 bis 1923. Weißensee Verlag Berlin 2004. ISBN: 3-89998-045-X, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 622-624: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mick_Wehrhahn_Westukrainische_Volksrepublik.html (Datum des Seitenbesuchs)