Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 62 (2014), 1, S. 142-144
Verfasst von: Julian Mühlbauer
Alexander Friedman: Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941. Propaganda und Erfahrungen. Stuttgart: Steiner, 2011. 429 S. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 78. ISBN: 978-3-515-09796-3.
Die Abkehr von den Schaltzentren der politischen Macht in Moskau oder Leningrad und eine damit einhergehende Hinwendung zur Regionalgeschichte des sozialistischen Projekts in der Sowjetunion ist in der osteuropabezogenen Geschichtswissenschaft sicherlich schon länger zu beobachten. Dennoch kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass über die UdSSR im Allgemeinen immer noch viel geschrieben wird, deren Subsysteme – kulturell wie territorial und politisch – aber noch über weite Strecken unerforscht geblieben sind. Einem solchen bislang wenig in den Fokus gerückten Feld widmet sich der Osteuropahistoriker Alexander Friedman mit seiner Studie über die Deutschlandbilder der Weißrussen in den Jahren 1919 bis 1941. Er setzt dabei die Bemühungen der sowjetischen Agitation und Propaganda zur Konstruktion bestimmter Fremdbilder mit den Eigenerfahrungen der Bevölkerung in Beziehung und geht den Intentionen und der Wirkkraft der parteioffiziellen Narrative nach.
Eine gleich zu Beginn erwartete Definition des zentralen „Deutschlandbilder“-Begriffs erschließt sich erst nach und nach (zur Diskussion des Begriffs vgl. Jan Peter Behrendt: Das Deutschlandbild als Forschungsgegenstand. Perzeption, Imagination und Veräußerlichung, in: Ingeborg Reichle / Steffen Siegel / Achim Spelten (Hg.): Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft. Berlin 2007, S. 131–146). Daher erscheint die in der Einleitung postulierte Zielstellung, nicht nur das propagandistische Deutschlandbild rekonstruieren zu wollen, sondern „die tatsächlichen Vorstellungen der Bevölkerung über Deutschland zu untersuchen“ (S. 23), zunächst unkonkret. Dennoch kommt der Autor der Forderung von Jan Peter Behrendt, „möglichst viele verschiedenartige ‚Veräußerlichungsfragmente‘ indizienartig zu sammeln und gegeneinander zu diskutieren“ (Behrendt: Deutschlandbild, S. 146), um Deutschlandbilder identifizieren zu können, umfassend nach. Er bedauert zwar, dass der ihm zur Verfügung stehende Quellenkorpus begrenzt sei, greift für seine Untersuchung jedoch auf eine bemerkenswerte Bandbreite unterschiedlicher Quellengattungen zurück. Das macht nicht nur die Lektüre lebendig, sondern liefert dem selbst forschenden Leser zudem Anregungen für die Erweiterung eigener Zugänge. So kommen Dokumente aus den Beständen belarussischer Archive, Autobiographien, Zeitzeugenerinnerungen, literarische Werke und Radiosendungen ebenso zur Anwendung wie eine Vielzahl polnisch-, jiddisch-, russisch- und weißrussischsprachiger Zeitungen und nicht zuletzt Schulbücher, Spielfilme und Theater-Programmhefte. Leider äußert sich der Autor jeweils nur knapp zu den gewählten methodisch-theoretischen Zugriffen und Herangehensweisen.
Die Studie offenbart die Ambivalenz der sowjetischen Propaganda-Anstrengungen in Bezug auf das Bild, das von Deutschland und den Deutschen gezeichnet werden sollte. Friedmann kommt zu dem Ergebnis, dass das übergeordnete Kalkül der Verantwortlichen in Moskau nicht ein einheitliches Deutschlandbild zu generieren suchte, sondern den regionalen Besonderheiten Rechnung zu tragen bemüht war und eine spezifische Propaganda über Deutschland in der Belorussischen SSR durchaus erkennbar sei.
Die weißrussische Bevölkerung habe sich mit einem propagandistischen Fremd- bzw. Feindbild konfrontiert gesehen, welches den Wandlungen der deutsch-sowjetischen Beziehungen zu folgen hatte: Von der politischen Annäherung der beiden Staaten nach dem Ersten Weltkrieg und der „Entspannungspolitik“ der Weimarer Zeit, über den Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland und den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt bis zum Überfall auf die Sowjetunion 1941. Zu beachten ist, dass die Außenwahrnehmung auch zu dieser Zeit bereits zwei Deutschland kannte: Das Deutschland der Imperialisten und Faschisten und das der deutschen Arbeiterbewegung mit ihren revolutionären Traditionen und Persönlichkeiten.
Als außerpropagandistische Einflussfaktoren macht Friedman die Erfahrungen der weißrussischen Bevölkerung mit den deutschen Besatzern während des Ersten Weltkriegs, die Konfrontation mit der deutschen Sprache, Kultur und Geschichte und die eigene Einstellung gegenüber der Sowjetmacht und ihrer Propaganda aus.
Zusammen mit der Analyse von Agitation und Propaganda bilden diese drei Faktoren die teils chronologische, teils nach Textsorten geordnete Gliederung des Buches. Nach einer Einleitung mit Reflexionen über Gegenstand und Vorgehensweise sowie einem kurzen Überblick über den Forschungsstand widmet sich Teil I der offiziellen Darstellung des Ersten Weltkriegs und der deutschen Besetzung von Teilen des heutigen Weißrusslands. Teil II geht den Leitmotiven verschiedener Printmedien, in Radio, Literatur, Film und Musik nach. Darüber hinaus werden beispielsweise die ideologische Ausbildung in der Roten Armee, die Faschismusforschung in Weißrussland und die weißrussische Geschichtswissenschaft auf ihr Verhältnis zu den Deutschen und auf angebotene Stereotype hin reflektiert. Neben den Massenmedien erörtert der Autor zielgruppenorientierte Deutschlandbilder etwa in der Pionierzeitschrift „Belaruski Pionėr“ (dt. Belarussischer Pionier) oder in der Thematisierung der Lage von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland durch die Zeitschrift „Rabotnica i kalhasnica“ (dt. Arbeiterin und Kolchosbäuerin).
Der dritte Abschnitt des Buches beleuchtet die Auseinandersetzung mit und die Kontakte zu der deutschen Sprache, Geschichte und Kultur in Belorussland. Das vierte Kapitel nimmt schließlich Selbstbilder in der weißrussischen Gesellschaft in den Blick. Zusammenfassend wird den verschiedenen Milieus in der BSSR eine graduell abgestufte Anfälligkeit für die Meistererzählungen des sowjetischen Agitprop attestiert.
Im zweiten Abschnitt neigt die Untersuchung aufgrund der Quellenauswahl mitunter zu Detailverliebtheit, was schon das Inhaltsverzeichnis, das sich über sieben Seiten erstreckt, verrät. Diese kleinteilige Gliederung trägt aber auch zu einer verdaulichen Portionierung des Buches bei, welches mit wissenschaftlichem Apparat immerhin 429 umfasst und ansonsten ohne Abbildungen und Tabellen auskommt.
Die in der vom Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker herausgegebenen Reihe „Quellen und Studien zur Geschichte des Östlichen Europa“ erschienene Monographie ist eine lohnenswerte Lektüre für alle, die sich für sowjetische Geschichte im Allgemeinen, die weißrussische im Besonderen oder die deutsch-sowjetischen Beziehungen interessieren. Darüber hinaus gibt sie Einblick in das Funktionieren sowjetischer Propaganda und deren Erfolg oder Ablehnung vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen der Bevölkerung. Das Buch ist gewissenhaft recherchiert und liefert durch seine Vielfalt von Quellenmaterial und Fallstudien über die „Deutschlandbilder“ hinausgehende Erkenntnisse.
Zitierweise: Julian Mühlbauer über: Alexander Friedman: Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941. Propaganda und Erfahrungen. Stuttgart: Steiner, 2011. 429 S. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 78. ISBN: 978-3-515-09796-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Muehlbauer_Friedmann_Deutschlandbilder.html (Datum des Seitenbesuchs)
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