Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 56 (2008) H. 4, S.  586-587

Bakyt Alicheva-Himy Les Allemands des steppes. Histoire d’une minorité de l’Empire russe à la CEI. Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften Berlin [usw.] 2005. XIV, 352 S., 9 Ktn., 3 Tab. = Collections „Contacts“. Série IV (Bilans et anjeux), 6. ISBN: 3-03910-333-4.

Eine kasachische Philologin hat sich für eine Doktorarbeit an der Universität Paris X-Nanterre ein Thema gewählt, das nicht unbedingt nahe liegt, weder ihr selbst, noch der Universität, an der die Arbeit entstanden ist, und nicht einmal dem Centre de Recherches Germaniques an der Sorbonne, in dessen Reihe das Buch erschienen ist. Es ist ein Abriss der Geschichte der Russlanddeutschen seit ihrer Ansiedlung unter Katharina II. bis zu den jüngsten Projekten einer Nationalautonomie bzw. eines deutschen Nationalrayons im Bestand der GUS (franz. Communauté des Etats indépendents = CEI). Etwas irreführend ist der Buchtitel, der nur die Deutschen der russischen Steppengebiete zu bezeichnen scheint. Es geht um sämtliche Russlanddeutsche, die sich seit 1941 als Deportierte in den Steppen Sibiriens und Zentralasiens wiederfanden, als Sondersiedler und Trudarmisten. So trefflich der historische Überblick gelungen ist: Der – zumal deutsche – Osteuropa-Historiker sollte nicht zuviel von einer Arbeit erwarten, die politikwissenschaftlich-journa­listisch gestaltet ist und sich kaum mit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzt. Das wird auch in den Anmerkungen deutlich. Der größte Teil der Quellen entstammt dem zeitgenössischen Diskurs in der späten Sowjetunion und der Russischen Föderation. Zahlreiche Aufzeichnungen von betroffenen Zeitzeugen sowie vereinzelte Archivdokumente aus den Staatsarchiven Kasachstan und Usbekistan bestreiten die Quellengrundlage. Drei Viertel der Arbeit haben die Sowjetzeit zum Gegenstand, wobei nicht versäumt wird, die weitreichenden Deportationspläne der Zarenregierung im Ersten Weltkrieg als Vorläufer der umfassenden Deportation 1941 anzuführen. Ausführlich werden verschiedene Projekte für ein autonomes Gebiet der Deutschen vorgestellt, darunter auch Pläne für das Kaliningrader Gebiet. Abschließend spricht die Verf. über die Einwanderung der Spätaussiedler und die Probleme der Integration in Deutschland sowie die Rückwanderung in die GUS.

Die Verf. nähert sich in einem klaren, gut zugänglichen Französisch und mit großem, aber nicht unkritischem Verständnis „ihren“ Deutschen. Sie wird nicht müde, deren sprichwörtliche Sekundärtugenden und schweres Schicksal in Russland zu betonen. Zwischen den Zeilen treten Achtung und Zuneigung zu den Menschen ihres Themas hervor, mit denen sie in ihrer Heimat zahlreiche Interviews und Gespräche geführt hat. Aufschlussreiche Statistiken, Karten und Pläne runden die Studie ab. Deutsche und russische Zitate und Quellenfunde sind im Haupttext französisch und in den Anmerkungen in den Originalsprachen wiedergegeben. So kann man hoffen, dass das Buch eine Orientierung für eine französische Leserschaft bietet, die sich einerseits mit einem Überblick vor allem über die jüngere Geschichte der Russlanddeutschen rasch vertraut machen will, andererseits eine Vorstellung von der derzeitigen politischen Situation der Russlanddeutschen sowohl in der GUS als auch in Deutschland gewinnen will. Auf eine deutsche Leserschaft kann die Verf. kaum hoffen, doch wenn die frankophone Forschung (Politikwissenschaft, Publizistik, Geschichte, Minderheiten- bzw. Migrationsforschung) erreicht wird, hat sich die verdienstvolle und gründliche Arbeit gelohnt.

Reinhard Nachtigal, Freiburg