Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Reinhard Nachtigal

 

Vladimir V. Lapin Armija Rossii v Kavkazskoj vojne XVIII–XIX vv. S.-Peterburg: Izdat. Evropejskij dom, 2008. 396 S. ISBN: 978-5-8015-0235-9.

Russlands Kaukasischer Krieg vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis 1864/78 gestaltete sich deshalb so schwierig und langwierig, weil es sich um einen außereuropäischen, einen Kolonialkrieg handelte und die russische Führung die „kaukasischen Realien“ in einer Hochgebirgsregion mit traditionalistischen Gesellschaftsstrukturen ignorierte. Das ist die Kernaussage der diachronen Studie von Vladimir Lapin, die eine Kollektivgeschichte all der (para-)militärischen Formationen ist, die von etwa 1800 bis 1878 in Kaukasien für die russische Sache kämpften. Neben Kosaken waren dies reguläre Armeeeinheiten an den Kordon-Linien, aber auch verbündete Völker wie Osseten, Georgier und Armenier und sogar einige der meist als unzuverlässig wahrgenommenen Bergstämme (z. B. Inguschen, Tschetschenen). In fünf Kapiteln untersucht der Verfasser zuerst den Verlauf der Einverleibung Kaukasiens ins Russische Reich, die Widerstand leistenden Bergvölker (russ. gorcy) als Gegner sowie die russischen Soldaten, die allmählich zu kavkazcy wurden; er stellt dann beide Parteien eines asymmetrischen Krieges dar und wirft schließlich noch einen Blick auf irreguläre verbündete Hilfs­truppen der russischen Armee. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit der älteren, vor allem sowjetischen Forschung ist ihm die Epochalisierung des Kriegs wichtig, dessen Beginn und Ende sich nicht eindeutig festlegen lassen.

Russlands militärisches Engagement im Kaukasus war zunächst keinen konkreten Kriegszielen oder imperialistischen Ambitionen geschuldet; vielmehr wurde, nachdem Ostgeorgien 1783 zuerst russisches Protektorat, 1801 dann Teil des Russländischen Reichs geworden war, das Sicherheitsstreben zu einem strategischen Selbstläufer, der über den momentanen Schutz der Georgischen Heerstraße hinausreichte. Dabei geht hier das bedeutsame Faktum unter, dass nach den russischen Siegen von 1829 gegen Perser und Türken die (meist islamischen) Bergvölker im Großen Kaukasus zum eigentlichen Hauptgegner der russischen Armee aufrückten. Sie bildeten unter dem Imam Šamil (1834–1859) als wirkungsvolle Gegenwehr einen Staat und erklärten den Heiligen Krieg, so dass die Auseinandersetzung den Charakter eines religiösen Konflikts annahm. Neben die militärische Sicherheit traten dann im Laufe des 19. Jahrhunderts zeittypisch der Kolonialismus und die zivilisatorische Mission des weißen Mannes als Ziele im Kaukasus hervor, beide eingebettet in die russische Reichsidee, die auf Expansion beruhte. Eine Diskussion zu Russlands Imperialismus wird dem Leser gleichermaßen erspart wie eine Erörterung des russischen „contiguous colonialism“ (F. Mostashari On the Religious Frontier. Tsarist Russia and Islam in the Caucasus. London 2006, S. 2).

Der hohe Militarisierungsgrad der kaukasischen Berggemeinschaften – der Verfasser spricht hier von einer Militärdemokratie – und die Institution der Blutrache bei diesen führten zu einer Privatisierung (bzw. Individualisierung) des Krieges, der bei den gorcy ohnehin ein Dauerphänomen in Form von Plünderungszügen und Überfällen zum Zwecke des Viehdiebstahls und der Menschenverschleppung (nabegovaja sistema) war. Bei islamischen Stämmen war er darüber hinaus auch religiös als Dauerzustand angelegt. Dieses System von Plünderungszügen und Überfällen gegen andere, auch gleichkonfessionelle Stämme, vor allem aber gegen russische Truppen, war mit dem wichtigen Motiv des Beutemachens traditionell-mittelalterlich und traf auf die europäische Vorstellung der Russen von Krieg. Das sich daraus ergebende gegenseitige ‚Missverständnis‘, insbesondere die Unkenntnis der kaukasischen Realien bei der russischen Führung, war nach Lapin wichtigste Ursache für die lange Dauer des Kriegs. Auf der russischen Seite erkennt er eine Barbarisierung des Kaukasischen Korps, die seit 1816, als Ermolov dessen Oberkommandierender wurde, einerseits zur Gewalteskalation, andererseits aber zum erfolgreichen Abschluss des Kriegs geführt habe: Erst nachdem die Russen eine Phase der Angleichung an die gorcy in Ausrüstung, Kampf- und Lebensweise durchlaufen hatten, als also eine Kommunikation möglich war, hätten sie die letzten Bergvölker besiegen können, während diese wiederum eine militärische Anpassung an die Russen durchmachten, die sie aber eher schwächte. Besonders früh, nämlich noch im 18. Jahrhundert, übernahmen die Terek-Kosaken im nordöstlichen Vorland des Großen Kaukasus solche gorcy-Gebräuche, fast gar nicht hingegen die ukrainischen Schwarzmeer- (später: Kuban-)Kosaken im nordwestlichen Kaukasusvorland, wo der Kampf gegen die Tscherkessen besonders grausam, wenn auch auf kaum militärisch zu nennendem Niveau verlief. Die sich über die Zeit hinweg wandelnden russischen Strategien und Herrschaftsinstrumente werden abgewogen. Dass die Russen sich das Plündern trotz militärstrafrechtlicher Verbote schließlich angewöhnten, lag nach Lapin auch am schlecht funktionierenden russischen Intendanturdienst.

Am bedeutsamsten sind vor diesem komplexen Hintergrund Aussagen zum legendären Typus des kavkazec, ein kaum zu übersetzender Begriff, dem später einmal der afganec folgen sollte: russische Soldaten, die sich den gänzlich andersartigen Bedingungen einer fremden Lebenswelt anpassten und die Kampf- und Handlungsweise des Gegners übernahmen, weil der keine Regeln der Kriegführung kannte, wie es in Konflikten europäischer Armeen üblich war. Der Krieg in einer unübersichtlichen und weiten Wald- und Gebirgslandschaft erforderte von den russischen Kämpfern ein hohes Maß an Selbständigkeit und Selbstbewusstbewusstsein, da nur kleine Einheiten mit großer Entscheidungsfreiheit und -freudigkeit sich dort erfolgreich bewähren konnten, wofür russische Linientruppen sicherlich nie standen. Im zum Teil engen Kontakt bzw. in Vermischung mit Einheimischen durch Handel, Heirat und Kampf sei es zum gänzlich andersartigen Habitus des kaukasischen Soldaten gekommen; im Kaukasus war ein Subethnos entstanden. Vor dem Hintergrund der jüngsten kriegerischen Konflikte im Kaukasus mit unmittelbarer russischer Beteiligung könnte Lapins Deutung als Apologie für ein besonders brutales militärisches Vorgehen in der Region missverstanden werden. Ausführlich kommt er auch auf das Phänomen Desertion und Überlaufen zum Feind zu sprechen, das bei den russischen Truppen im Kaukasus besonders ausgeprägt war.

Einige wichtige Faktoren, die zu Russlands Sieg im Kaukasus beitrugen, bleiben bei Lapin unscharf: Russland kämpfte im Kaukasus gegen einen Feind, der lange in vormodernen Strukturen verharrte, bis die Gründung eines islamischen Staats und entsprechender moderner staatlicher Instrumente ihm einen gewissen Erfolg gegen die Eindringlinge ermöglichte. Schließlich war es die technisch-militärische und die materielle Überlegenheit der Russen, die sich à la longue auswirkten. Insbesondere nichtrussischen Lesern mag außerdem die These des Verfassers, dass die allmähliche Barbarisierung der russischen Truppen den Krieg verkürzte, zweifelhaft erscheinen.

Als technisches Defizit des Werks ist das Fehlen jeglicher Karten zu vermerken. Mindestens drei hätten hierher gehört: eine zur Vorschiebung der Kordon-Linien, eine Übersicht über die zahlreichen erwähnten Völker bzw. Stämme in ihren landschaftlichen Lebensräumen sowie eine Übersicht zu den militärischen Stützpunkten und Orten kriegerischer Konflikte. Auch die Karten im vortrefflichen Geschichtsatlas von Artur Cuciev (Atlas ėtnopolitičeskoj istorii Kavkaza 1774–2004. Moskva 2006) helfen hier nicht immer weiter.

So bleibt man am Ende der Lektüre dieser gründlichen Studie etwas ratlos zurück, da Lapins historische Schlüsse keineswegs überraschend sind und kaum neue Einsichten bergen: Schon die zahlreichen den Kaukasus bereisenden Zeitgenossen des Krieges benannten seine Besonderheiten. Viele der geschilderten (militär-)historischen Details richten sich vor allem an eine interessierte russische Leserschaft. Trotzdem ist es ein nützliches Werk, da es Russlands kaukasischen Krieg aus einer neueren russischen und militärgeschichtlichen Perspektive beleuchtet, woran es seit der ausgehenden Sowjetzeit gefehlt hat.

Reinhard Nachtigal, Freiburg im Breisgau

Zitierweise: Reinhard Nachtigal über: Vladimir V. Lapin Armija Rossii v Kavkazskoj vojne XVIII–XIX vv. Izdat. Evropejskij dom S.-Peterburg 2008. ISBN: 978-5-8015-0235-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nachtigal_Lapin_Armija_Rossii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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