Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 338-340
Verfasst von: Oksana Nagornaja
Birgit Hofmann: Der „Prager Frühling“ und der Westen. Frankreich und die Bundesrepublik in der internationalen Krise um die Tschechoslowakei 1968. Göttingen: Wallstein, 2015. 472 S, 5 Abb. = Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 10. ISBN: 978-3-8353-1737-6.
Das Jahr 1968 ist für die wissenschaftliche und für die breite Öffentlichkeit seit langem die Verkörperung einer ganzen Epoche: Mit diesem Datum verbindet man umfangreiche Entwicklungsstränge der politischen, sozialen, kulturellen und medialen Lebensbereiche der europäischen Länder; dieses Datum verleiht einer ganzen Generation ihren Namen und bezeichnet ihre existenzielle Erfahrung. Allerdings beziehen sich die lebhaften wissenschaftlichen Diskussionen der letzten Jahre primär auf die westliche Perspektive und sie ignorieren weitgehend die Tatsache, dass das Jahr 1968 zu einer entscheidenden internen und externen Zäsur auch für den Ostblock geworden ist. Birgit Hofmann entschied sich, eines der bedeutendsten Ereignisse dieses Jahres zum Dissertationsthema zu machen, das gleichermaßen für den Westen wie für den Osten relevant ist: die Reformen des „Prager Frühlings“ und ihr tragisches Finale. Eine „Pionierleistung“ eigener Arbeit sieht die Autorin selbst nicht nur in ihrem Bestreben, viele fest verankerten Vorstellungen bezüglich der Rolle des Westens in den Ereignissen von 1968 zu revidieren. Diese Leistung bestünde auch im Versuch, die Symptomatik des Krisenverhaltens der westeuropäischen Staaten auf der internationalen Bühne und die Symptomatik der Veränderung ihrer politischen Strategien in Reaktion auf eine äußere Krise aufzuzeigen.
Hofmann verzichtete darauf, die Außenpolitik eines Landes als Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln zu erforschen. Vielmehr stellt sie Außenpolitik als komplexe Kette von Reaktionen auf Herausforderungen anderer Staaten und politischer Blöcke dar, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von besonderer Bedeutung waren. Hofmann analysiert Wechselwirkungen zwischen den Aktoren, die an der Krise beteiligt waren (in diesem konkreten Fall sind es die Länder des Ostblocks), und den sogenannten „Referenzaktoren“ (den westeuropäischen Staaten). Die Beteiligung der letzteren war zwar nur potenziell, sie beeinflusste jedoch die unmittelbaren Aktoren spürbar und verleitete sie zu präventiven, oft fehlgeleiteten Schritten.
Der in der Überschrift verwendete Begriff „Westen“ ist in der Monographie vor allem als ein breiter ideologischer und politischer Kontext präsent. Das Hauptaugenmerk ist einer Vergleichsanalyse der Positionen zweier Länder gewidmet: Frankreich und Westdeutschland. Es sollte darauf verwiesen werden, dass im Unterschied zu einer detaillierten Darstellung der westdeutschen Außenpolitik, die sich aus Einflüssen unterschiedlicher Parteien, Politiker und Interessensgruppen wie z.B. der Sudetendeutschen, ergibt, die französische Außenpolitik wie eine zur Transformation unfähige Einheit erscheint. Hoffmann erklärt sie kategorisch zur unmittelbaren Verlängerung von de Gaulles Weltbild, obwohl sie selbst den Schluss zieht, dass alle wichtigen Veränderungen in den Beziehungen zwischen den west- und den osteuropäischen Staaten vor der Krise gerade auf einem nichtpolitischen Gebiet stattgefunden hätten: im Bereich der Kulturdiplomatie, beim Abschluss von Partnerschaftsverträgen, bei Besuchen international anerkannter Intellektueller, in symbolischer Rhetorik und Gesten.
Die Quellenbasis der Untersuchung ist breit angelegt und gründlich aufgearbeitet: Die Autorin analysiert Archivgut, veröffentlichte Quellensammlungen, öffentliche Medien, Erinnerungen und Interviews der Zeitzeugen. Trotz der beabsichtigten Interdisziplinarität greift die Forscherin nicht durchgehend auf die neuesten Ergebnisse benachbarter Fächer zurück: Im Hinblick auf die sich rasant entwickelnden „memory studies“ scheint ihr Einsatz von Politikermemoiren (z.B. von F.-J. Strauß) als ein einziger Beleg für wichtige Thesen unzureichend zu sein (S. 423). Mit mehr Fokus auf Quellen und Forschungsliteratur zur Geschichte Osteuropas und der UdSSR hätte die Autorin die Motivation der unmittelbaren Krisenbeteiligten weniger schematisch darstellen können und Fehler bei der Benennung von Personen aus der sowjetischen Führung vermieden (S. 60).
Insgesamt schafft Hofmann es aber, die komplexe und gegensätzliche Verflechtung der Faktoren anschaulich darzustellen, welche die Handlungsstrategien des Westens in der Krise um die Tschechoslowakei bedingten: Der Einsatz von Warschauer-Pakt-Truppen wurde zwar für möglich gehalten, nicht aber bei der Planung der Gegenmaßnahmen berücksichtigt. Am Scheitelpunkt der Krise konnten sich die Weststaaten nicht einigen. Die fest verankerten (falschen) Wahrnehmungen der Situation und die spezifische Instrumentalisierung von Erfahrungen mit früheren Krisen zwischen NATO und Warschauer Pakt standen ihnen im Weg. Die Skepsis des französischen Präsidenten gegenüber den Reformen des Prager Frühlings sowie seine Wahrnehmung von A. Dubček als eines weiteren „Apparatschiks“ überlagerten sich mit der grundsätzlichen Einschätzung de Gaulles, die Verletzung der Volkssouveränität in der Tschechoslowakei sei eine unausweichliche Folge der Verträge von Jalta. Das Ausbleiben aktiven Widerstands der Bevölkerung wurde als Fehlen entsprechender nationaler Gesinnung gedeutet. Im Hinblick darauf sowie auf die stets drohenden Ausweitung der Krise zu einen Atomkrieg entschieden sich die USA gegen einen Militäreinsatz. Die Autorin hat die Handlungen der BRD als das Resultat eines Dilemmas dargestellt: Der Wunsch nach einer Annäherung an die tschechoslowakischen Reformer in der Tradition der europäischen Sozialdemokratie einerseits und die Angst, die UdSSR zu provozieren, anderseits, die stark von der DDR beeinflusst war. Die widersprüchliche Position der USA, die ihr Alleinrecht auf Interessenvertretung des „Westens“ in Verhandlungen mit dem sozialistischen Block verteidigen wollten, belastete die Situation. Genauso wirkte sich der Konflikt zwischen der BRD und Frankreich aus, das auf die Emanzipierungsversuche des „Juniorpartners“ in der Entspannungspolitik mit der Beschuldigung reagierte, die westdeutschen Politiker würden eine Invasion provozieren. Obwohl alle Westländer die Vorstellung von einer Verletzung des internationalen Rechts teilten und die Verurteilung der Souveränitätsverletzung bei ihnen einheitlich ausfiel, konnten die „Referenzaktoren“ keine neuen Wirkungsinstrumente außer des im Rahmen des Kalten Krieges erprobten Spektrums finden: einer Resolution der UNO und des Drucks der Medien.
Trotz einer insgesamt negativen Erfahrung der westeuropäischen Staaten war die Postkrisensituation durch eine bedeutende Wandlung in den außenpolitischen Strategien gezeichnet. Die Autorin ist der Meinung, dass die BRD, obwohl sie zum Hauptziel der sowjetischen Propaganda wurde, ihr Ansehen im Vergleich zur DDR verbessern konnte: Die letztere trat als Aggressor auf und verlor ihr angehäuftes Symbolkapital. Andererseits führte die auf der Einschätzung des Kriseninstrumentariums der USA basierende Entscheidung, an der eigenen „Ostpolitik“ festzuhalten, zur allmählichen Transformation der Hallstein-Doktrin. Dies wiederum begünstigte die internationale Anerkennung der DDR. Hofmann bestreitet die in der Forschung etablierte Vorstellung von der BRD als einer „USA-Marionette“, hebt aber gleichzeitig mehrmals hervor, dass die Lage des jungen Staates, der durch die historische Erfahrung vorbelastet war und von der internationalen Öffentlichkeit mit Misstrauen beobachtet wurde, nicht eindeutig war. Die ersten Handlungsversuche der BRD auf der internationalen Arena bewirkten einen Konflikt nicht nur mit der UdSSR, sondern auch mit dem verbündeten Frankreich.
Die herausgearbeiteten, nach Meinung der Autorin symptomatischen westeuropäischen Reaktionen auf die außenpolitische Krise motivierten Hofmann zu breiten, im Schlussteil des Buchs dargelegten Parallelen nicht nur mit den Samtenen Revolutionen von 1989, sondern auch mit der jetzigen Situation. Hofmann greift auf die im heutigen deutschen Diskurs verbreiteten Metaphern von der Wiederbelebung der „Brežnev-Doktrin von 1968“ in der „Putin-Doktrin“ zurück und stellt Betrachtungen über die wichtigste Aufgabe der „Demokratien“ an. Diese bestehe darin, die westlichen Werte immer wieder neu zu bestimmen und dieses imaginäre Ganze gegenüber „autoritären und diktatorischen Regimen“ zu schützen. Dabei wird der gesamte innovative Gehalt der Arbeit am Ende auf die eine deterministischen Feststellung verkürzt, Europa habe als einheitlicher Referenzraum bereits in den sechziger Jahren bestanden. Indessen scheint die Interessenambivalenz der westlichen Länder vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in der Argumentation klar auf: das Konfliktpotenzial innerhalb des „Westblocks“, der ständige Wandel der Strategie in den einzelnen Krisenphasen und in Abhängigkeit von den jeweiligen Beziehungen zwischen den Supermächten, die aus 1968 resultierende Stabilisierung der bipolaren Strukturen. Es scheint, die Perspektive für die Forschung würde gerade in den impliziten Schlussfolgerungen der Autorin über die Notwendigkeit einer weiteren Diversifikation der Eindeutigkeits- und Einheitlichkeitsvorstellung von den Blockstrukturen und über die Analyse ihrer „Vernetzungsgeschichten“ liegen.
Zitierweise: Oksana Nagornaja über: Birgit Hofmann: Der „Prager Frühling“ und der Westen. Frankreich und die Bundesrepublik in der internationalen Krise um die Tschechoslowakei 1968. Göttingen: Wallstein, 2015. 472 S, 5 Abb. = Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 10. ISBN: 978-3-8353-1737-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nagornaja_Hofmann_Der_Prager_Fruehling.html (Datum des Seitenbesuchs)
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