Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 103-105

Verfasst von: Oksana Nagornaja

 

Aleksandr Vatlin: Sovetskoe ėcho v Bavarii. Istoričeskaja drama 1919 g. v šesti glavach, pjati kartinach i dvadcati dokumentach [Das sowjetische Echo in Bayern. Das historische Drama des Jahres 1919 in sechs Kapiteln, fünf Bildern und zwanzig Dokumenten]. Moskva: Novyj chronograf, 2014. 464 S. ISBN: 978-5-94881-231-1.

Das Gedenkjahr 2014, das in den Medien wie auch in den Geschichtswissenschaften vor allem dem Beginn des Ersten Weltkriegs gewidmet war, hat andere Jahrestage, wie etwa die Ausrufung der Bayerischen Räterepublik vor 95 Jahren, in den Hintergrund treten lassen. In Russland etwa hat die unermüdliche Suche nach eindeutig heroischen Momenten des „vergessenen Krieges“ dazu geführt, dass umstrittene und mehrdeutige revolutionäre Ereignisse völlig in Vergessenheit gerieten. Das Buch von Alexander Vatlin bildet in diesem Zusammenhang eine glückliche Ausnahme: Seine Untersuchung ist eine wichtige Ergänzung zur aktuellen internationalen Diskussion über die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für die Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa in der Zwischenkriegszeit.

Die vorliegende Monographie stützt sich auf umfangreiches Quellenmaterial aus russischen und deutschen Archiven (darunter auch höchst interessante, gleichwohl schwer zu interpretierende Gerichtsakten), auf Presseberichte, Ego-Dokumente und Memoiren, wie auch auf die zahlreiche Sekundärliteratur zur Münchner Räterepublik, die vom Autor mit den jeweiligen politischen Trends in Beziehung gesetzt wird, die das kulturelle Gedächtnis prägen. Besonders anschauliche Dokumente sind in den einzelnen Kapiteln im Volltext veröffentlicht.

Dem Autor ist es zwar mit großer sprachlicher Klarheit gelungen, die Menge an Fakten, Personen und Vorgängen analytisch zu ordnen, doch verwirrt er den akademischen Leser in seiner Einleitung durch die Beschreibung seines methodologischen Instrumentariums, das er als „traditionelle, chronologisch geordnete Quellenanalyse“ bezeichnet, ergänzt um fünf mikrohistorisch untersuchte Fälle – Vatlin spricht von „fünf Bildern“. Auch hat er sich entschieden, in seiner Darstellung „das Geschehen bewusst zu dramatisieren, um die verborgenen Mechanismen der Entwicklung sichtbar werden zu lassen“. Am Ende der äußerst spannenden Lektüre wird dem Leser jedoch klar, dass es sich um eine Arbeit handelt, die in Form der interdisziplinär angelegten „Neuen Politikgeschichte“ geschrieben ist und damit Elemente von Gender- und Generationenproblemen, visueller Anthropologie, wie auch kommemorativer und (auto-)biographischer Analyse umfasst. Bei einigen Exkursen, zur generationentypischen Erfahrung von Kombattanten des Ersten Weltkriegs oder zur Rolle der Frau in europäischen Revolutionen, wäre eine Erweiterung und Vertiefung wünschenswert gewesen. Allerdings gelingt es dem Autor mit seinen „fünf Bildern“, die eher in literarischem als in einem für die Mikrohistorie üblichen Stil verfasst sind, dem Leser die individuelle wie auch die kollektive Tragödie besonders eindrücklich vor Augen zu führen.

Zu einem der Hauptthemen der Untersuchung ist die akteursbezogene Dimension der bayerischen Revolution geworden. Vatlin zeigt höchst anschaulich, wie im Frühjahr 1919, als sich der revolutionäre Furor in Deutschland bereits abschwächte, die Berufsrevolutionäre den Weg nach Bayern fanden, in der Hoffnung, in den Wirbel der Ereignisse zurückzukehren; manche beflügelt von Gerüchten über eine finanzielle Unterstützung aus Sowjetrussland. Es war dieses Bild von „Spartakisten mit Rucksack“, vor allem von Politemigranten aus dem ehemaligen Zarenreich, die überall bereit waren, revolutionäre Unruhe zu entfachen, das die führenden Vertreter der Bayerischen Räterepublik in den Augen der einheimischen Bevölkerung diskreditierte und von der konterrevolutionären Propaganda erfolgreich eingesetzt wurde. Der Autor zeichnet eine eindrucksvolle und überzeugende Porträtgalerie der Kommune: von überzeugten Ideologen und arbeitslosen demobilisierten Soldaten des Ersten Weltkriegs über fanatische Anhängerinnen der Emanzipation und realitätsferne, in den Wolken schwebende Künstler aus Schwabing bis hin zu Hochstaplern und eitlen Karrieristen. Vor allem der Mangel an geeignetem Personal war ursächlich für das administrative Chaos und für unterschiedlichste planlose Maßnahmen wie etwa eigeninitiativ vorgenommene Requisitionen, die Ankündigung eines Generalstreiks, oder auch die Auseinandersetzungen mit den Banken. Die meisten Maßnahmen, vor allem auf dem Finanzsektor, waren auf eine langfristige Perspektive ausgerichtet, in der sich nicht nur die erklärten Feinde, sondern auch die potentiellen Verbündeten gegen die Räterepublik stellten. Zweifel an der Langlebigkeit des Räteexperiments bestimmten das Handeln der gesamtdeutschen KPD-Führung, die die süddeutschen Kommunarden förmlich im Stich ließ, die Beamten der lokalen Behörden ignorierten die Befehle der neuen Macht, und die bayerische Bauernschaft stand den Reformvorschlägen völlig teilnahmslos gegenüber.

Während der „rote“ Terror nach Einschätzung des Autors ohne größeres Blutvergießen ausging – der berüchtigten Hinrichtung im Luitpold-Gymnasium fielen zehn Menschen zum Opfer –, überstieg der „weiße“ Terror alle denkbaren Maßstäbe: Neben den Opfern militärischer Auseinandersetzung und hunderten außergerichtlicher Erschießungen standen über hunderttausend Menschen (ein Sechstel der damaligen Münchner Bevölkerung) wegen ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Sympathien für die Roten vor Gericht. Dabei wurden Nichteinheimische bei gleichen Delikten strenger verurteilt als die Einwohner Bayerns. Was in der Geschichtsschreibung noch wenig erforscht ist, so der Autor, sind die in ganz Bayern bis hin zur österreichischen Grenze vorgenommenen Durchsuchungsmaßnahmen. Und selbst die führenden Akteure der Räterepublik, denen es gelungen war zu fliehen, gerieten später in die Mühlen des nationalsozialistischen und des stalinistischen Terrors.

Der Autor befasst sich in seiner Untersuchung nicht nur mit der Rolle der Freikorps, deren Brutalität weitgehend erklärbar ist, sondern auch mit der sozialdemokratischen Regierung in Berlin, die das Blutbad im Süden aus eigenem Interesse zuließ: Es ging ihr darum, die letzten kommunistischen Brandherde auszulöschen, Einfluss auf die Siegermächte zu nehmen hinsichtlich ihrer Vorstellung von Deutschland als europäischem Vorposten gegen den Bolschewismus und auch darum, dem Streben Bayerns nach Unabhängigkeit ein Ende zu setzen. Auch wenn der Autor die These von einem direkten Zusammenhang zwischen der blutigen Niederschlagung der roten Revolution und der Umwandlung Bayerns in ein Bollwerk der braunen Revolution als grobe Vereinfachung bezeichnet, so weisen doch viele seiner Schlussfolgerungen, wie etwa die personelle Kontinuität, in ebendiese Richtung.

Das „sowjetische Echo“ ist eine sehr gelungene, anschauliche Metapher als Antwort auf die Frage, inwieweit sich russisch-bolschewistische und bayerische Modelle bei der Umsetzung der revolutionären Experimente wechselseitig beeinflusst haben. Die auf sowjetischer wie auch auf bayerischer Seite vermittelte Darstellung des Anderen beruhte auf irreführenden Vorstellungen über den Verlauf der Ereignisse im jeweils anderen Teil Europas. Dies war teils auf den Abbruch der regulären Kommunikation zurückzuführen, teils aber auch von Wunschdenken getragen. Weder die von der weißen Propaganda verbreiteten Gerüchte über eine großzügige Finanzierung der süddeutschen Revolutionäre durch Sowjetrussland, noch der Glaube an die Möglichkeit einer direkten Steuerung der bayerischen Revolution aus Moskau entsprachen der Wirklichkeit. Gleichwohl gelingt es dem Autor nicht nur, die verbindende Logik der revolutionären Ereignisse in beiden Ländern nachzuzeichnen – der unerwartet leichte Sturz einer tausendjährigen Monarchie, die anfängliche Euphorie im Lager der Sieger und dessen rasche Zersplitterung unter dem Einfluss demokratischer Verfahren –, sondern auch gegenläufige Tendenzen herauszuarbeiten: ein unterschiedliches Verständnis von Räten und Räterepublik, eigene Vorstellungen im Hinblick auf Krieg und Frieden, wie auch in Bezug auf die Doppelherrschaft. Diese Kontextualisierung von unterschiedlichen Prozessen und Ereignissen der europäischen Zwischenkriegszeit wie auch der longue durée der Revolution gehört zweifellos zu den besonderen Stärken dieser Arbeit.

Oksana Nagornaja, Čeljabinsk

Zitierweise: Oksana Nagornaja über: Aleksandr Vatlin: Sovetskoe ėcho v Bavarii. Istoričeskaja drama 1919 g. v šesti glavach, pjati kartinach i dvadcati dokumentach [Das sowjetische Echo in Bayern. Das historische Drama des Jahres 1919 in sechs Kapiteln, fünf Bildern und zwanzig Dokumenten]. Moskva: Novyj chronograf, 2014. 464 S. = ISBN: 978-5-94881-231-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nagornaja_Vatlin_Sovetskoe_eho_v_Bavarii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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