Nancy Aris Die Metro als Schriftwerk. Geschichtsproduktion und industrielles Schreiben im Stalinismus. Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2005. 355 S. ISBN: 3-86573-085-X.

Der „sozialistische Aufbau“ wurde in der stalinistischen Sowjetunion der dreißiger Jahre gleich­zeitig mit dem Versuch seiner Verwirklichung bereits auch als historische Großtat zelebriert. Die Akteure handelten und sprachen in dem Bewusstsein, Weltgeschichte zu machen. Man kann dieses „Geschichte-Machen“ interpretieren als Selbstvergewisserung derer, die sich die radikale Umgestaltung des Landes auf die Fahnen geschrieben hatten, als Erziehungsprojekt und als Teil einer Inszenierung gegenüber der eigenen Bevölkerung und dem Ausland.

Nancy Aris hat sich dieses mehrschichtigen Phänomens am Beispiel des Baus der Moskauer Metro angenommen. Ihr Zugriff ist ein literaturwissenschaftlicher und zielt in erster Linie auf die Texte, die von der Redaktion „Geschichte der Metro“ zwischen 1933 und 1935 produziert wurden. Diese Redaktion war Teil des von Mak­sim Gor’kij ins Leben gerufenen Projekts „Geschichte der Fabriken und Werke“: Arbeiter und Ingenieure sollten zusammen mit Schriftstellern Zeugnis ablegen, wie sie das Jahrhundert­bauwerk zustande brachten und wie die Arbeit an der Metro ihre Persönlichkeit veränderte.

Die „Geschichte der Fabriken und Werke“ ist bereits wiederholt behandelt worden. Die bisherige Forschung hat sich der in den dreißiger Jahren gesammelten und produzierten Texte aber mehr als Informationsquelle bedient als sie selbst zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Nancy Aris unternimmt nun genau dieses. Sie interessiert sich für die Texte, die Bedingun­gen und Hintergründe ihrer Entstehung, sie fragt nach der Institutionalisierung der Redaktion und deren Tätigkeit beim Generieren und Überarbeiten von Texten. Sie möchte am Beispiel dieser Textproduktion zeigen, wie die Institutionalisierung stalinistischer Kultur funktionierte, wie die Machtmechanismen innerhalb die­ser Institution wirkten und wie es gelang, bestimmte Ideologeme der herrschenden Elite praktisch umzusetzen und sie als Bestandteil der gesellschaftlichen Realität in den Alltag der Menschen zu integrieren.

Wie die Redaktion funktionierte, unter welchen Bedingungen die bestellten Texte zustande kamen, unter welchen Prämissen und Zielvorgaben sie redigiert wurden, welche Probleme da­bei auftraten – das alles kann Aris ebenso überzeugend und instruktiv darlegen wie die Um­stände, die dazu führten, dass die letztlich zur Eröffnung der ersten Metrolinien 1935 publizierten zwei Bände wenig mit dem ursprünglichen Konzept gemein hatten. Die in der Repräsentation und offiziösen Historiographie des Metrobaus bewusst inszenierte Dominanz der Komsomolzen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gros der Metrobauer einen anderen Typus verkörperte: Menschen, die vom kollektivierten Dorf kommend meist nur für kurze Zeit, unter erbärmlichen Bedingungen und mehr schlecht als recht auf den Baustellen ra­ckerten. Gerade diese Leute hatte Gor’kij im Blick, als er 1931 seine Vision einer proletarischen Geschichte skizzierte: Das Geschichts­pro­jekt sollte die Menschen in ihrem Bewusstsein verändern, sie zu klassenbewussten Arbeitern formen. Aris beschreibt anschaulich, mit welchen Konzepten und Methoden man versuchte, diese Utopie der Umformung von Menschen durch Textproduktion umzusetzen und da­bei eine möglichst große Breitenwirkung zu erzielen.

Das ist alles im Prinzip nicht neu, wurde aber in der Literatur noch nie so systematisch und zusammenhängend dargelegt. Dennoch hätte man sich gewünscht, dass die Verfasserin mehr auf die vorhandene Forschung Bezug genommen hätte. Sie belegt ihre Aussagen durchwegs mit Archivquellen, auch wenn sie schon anderswo – bisweilen sogar mit denselben Schlüsselzitaten – nachzulesen waren. Das gilt für die Ziele und Organisation des Geschichts­projekts, den Diskurs von der erfolgreichen Transformation der Menschen auf den Baustellen oder die suggestive Textproduktion. Verwiesen sei dabei nicht nur auf Forschungen des Rezensenten, sondern auf Beiträge von Sergej Žuravlev, Michail Ryklin und die Dissertation von Josette Bouvard (Josette Bouvard Le Métro de Moscou, 1931–1954. Mythes et réalités. Diss. Paris 1998 [Mikrofiche]; zwischenzeitlich in überarbeiteter Form als Buch gedruckt: Le Métro de Moscou. La construction d’un mythe soviétique. Paris 2005). Die letzten beiden Titel scheinen nicht einmal im Literaturverzeichnis auf. Mit der geringen Rückbindung in die Sekundärliteratur korrespondiert die schwach ausgeprägte Einordnung der Befunde in größere Zusammenhänge. Aris gelingt es nur eingeschränkt deutlich zu machen, welche Schlussfolgerungen sich aus dem, was sie an Neuem herausgefunden hat, ergeben.

Substantiell neu ist vor allem ihre Analyse der Generierung und Überarbeitung der Texte (S. 117–281). Anhand von Diskussionen in der Redaktion und einer exemplarischen Gegenüberstellung von Erstfassungen und publizierten Texten zeigt Aris, mit welchen Zielen und Methoden Geschichte „produziert“ wurde. Sie iden­tifiziert verschiedene Muster der Textmanipulation, von der leitmotivischen Anordnung über Verdichtungen, Hinzufügungen, Auslassun­gen bis zur fingierten Mündlichkeit. Das ist alles sehr überzeugend und darstellerisch gut gelungen, aber wenig überraschend. Überraschend ist vielmehr ihre abschließend positive Antwort auf die in der Einleitung formulierte anspruchsvolle Fragestellung nach der Wirkungsmächtigkeit der Umerziehung durch die kollektive Textproduktion. Dabei hatte sie zwischendurch gezeigt, wie das Tagebuchschreiben als Massenbewegung völlig gescheitert war, so dass man auf die Generierung von Erinnerungen über Interviews ausweichen musste. An der Textproduktion waren letztlich nicht mehr als 150 Personen beteiligt – und bei diesen handelte es sich überwiegend um Komsomol- und Parteiaktivisten sowie ausgesuchte „Stoßarbeiter“. Was wir über den Alltag und die Verhaltensweisen der mehr als 75.000 anderen Arbeiter auf den Metrobaustellen wissen, relativiert die Massenwirkung des Projekts doch erheblich. Damit ist keineswegs gesagt, dass die Inszenierung des Metrobaus als Geschichtswerk wirkungslos gewesen wäre, aber diese Wirkung lässt sich aus den Absichten und Strategien der Textproduktion selbst nicht erschließen. Dennoch: Sieht man von dieser mit der angewendeten Methode nicht beantwortbaren Frage ab, hat Nancy Aris ein lesenswertes Buch vorgelegt, das an der Schnittstelle von Literatur- und Geschichtswissenschaft einen quellennahen Einblick in die Umgestaltungsutopien der Bol’ševiki bietet und die vorhandene Forschung ergänzt.

Dietmar Neutatz, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Dietmar Neutatz über: Nancy Aris: Die Metro als Schriftwerk. Geschichtsproduktion und industrielles Schreiben im Stalinismus. Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2005. ISBN: 3-86573-085-X, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 617-619: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Neutatz_Aris_Metro.html (Datum des Seitenbesuchs)