Dmytro Myeshkov Die Schwarzmeerdeutschen und ihre Welten 1781–1871. Klartext Verlag Essen 2008. 507 S., Tab. = Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 30. ISBN: 978-3-89861-715-4.

Die Russlanddeutschen waren in den vergangenen zwei Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen. Dabei korrespondierte das aus der thematischen Relevanz gespeiste Forschungsinteresse nicht immer mit methodisch-konzeptioneller Aktualität. Vor allem manche Qualifikationsarbeiten russischer oder ukrainischer Provenienz tendierten zum Deskriptiven, zur Dokumentation statt zur Analyse. Die hier zu besprechende Dissertation ist von anderem Zuschnitt. Der Verfasser, früher als Archivar in Dnepropetrovsk tätig, hat seine profunde Quellenkenntnis dazu genutzt, neue Perspektiven auf die Geschichte der deutschen Kolonisten in der südlichen Ukraine zu eröffnen. Ausgehend von einem lebensweltlichen An­satz fragt er nach der Erfahrung der Ansiedler und der Bewältigung eines Alltags, dessen Bedingungen und Anforderungen sich fundamental von dem unterschieden, was die Einwanderer vor der Übersiedlung ins Russische Reich gekannt hatten, und stellt seine Untersuchung damit in den größeren Rahmen der kulturellen Begegnung von Ost und West. Er fokussiert in seiner stark anthropologisch geprägten Betrachtung immer wieder auf zwei in der Nähe von Odessa gelegene Kolonien. Die zeitweilige Konzentration auf die Mikroebene erweist sich dabei nicht als Verengung, sondern als Voraussetzung für eine Analyse von beeindruckender Eindringtiefe. Was dem Leser in plastischer und stets quellennaher Weise entgegentritt, sind Menschen, Familien und Dorfgemeinschaften, ohne dass darüber die übergeordneten Kontexte und Zusammenhänge verloren gingen.

Das Buch gliedert sich in zwei Abschnitte: Der erste hat die „innere Welt“ der Kolonien zum Gegenstand, namentlich die wirtschaftliche und demographische Entwicklung. Die Fragestellungen, die Myeshkov an sein Material anlegt, sind vielfältig und fördern viel Neues zutage. Man erfährt, welche landwirtschaftlichen Kulturen die Ansiedler anfangs auswählten und wie sie in den Folgejahren ihre Präferenzen aufgrund der Erfahrungen mit Klima und Boden veränderten. Dabei erwiesen sie sich als flexib­ler und rationaler als die einheimischen Staatsbauern. Deutlich arbeitet Myeshkov die Klimaabhängigkeit der Landwirtschaft im Schwarzmeergebiet heraus, die zu extremen Ertragsschwankungen führte. Hinzu kommen fundierte Informationen zu Handwerk, Manufakturen und Handel, also zu ökonomischen Tätigkeitsfeldern der Kolonisten, die bislang von der Forschung nicht angemessen berücksichtigt worden waren. Heiratsverhalten, Geburtenziffern, Kindersterblichkeit, Krankheiten und Familienstrukturen bei den Kolonisten diskutiert der Verfasser im Hinblick auf die Übereinstimmung mit west- und osteuropäischen demographischen Grundmustern. Dabei rekurriert er immer wieder auf ein zentrales Problem: die Adaptation der Ansiedler an die neue Umwelt. Diese Frage ist an sich nicht neu, wurde aber bislang noch nie systematisch und derart quellengesättigt untersucht wie hier. Besonderes Augenmerk lenkt der Verfasser auf die massiven Bevölkerungsverluste durch Krankheiten unmittelbar nach der Ansiedlung.

Im zweiten Abschnitt geht es um die Beziehungen der Kolonien zur Außen- und Umwelt. Myeshkov beginnt mit den natürlichen und klimatischen Verhältnissen und nimmt danach die Beziehungen der Kolonisten zu ihren Nachbarn und zum russischen Staat in den Blick. Über allem steht nun noch klarer die Frage der Adaptation. Myeshkov thematisiert das Verhältnis der Kolonisten zur Natur, untersucht Epidemien, Dürrekatastrophen, Schädlingsinvasionen und Viehseuchen und zeigt, wie die Siedler mit diesen Herausforderungen zurechtkamen und welche Unterstützungen ihnen seitens der Behörden zuteil wurden. Von den Adaptationsstrategien geht es in direkter Linie weiter zu den Beziehungen zwischen den Kolonisten und ihren Nachbarn. Myeshkov zeichnet ein vielschichtiges Bild von Wechselbeziehungen. Die Außenkontakte der Kolonisten bringt er mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Verbindung, indem er einen Primat des Ökonomischen konstatiert und die Wirtschaft der Kolonien als Teil eines regionalen Wirtschaftssystems begreift: Aus den ökonomischen Interessen und Kontakten ergaben sich die Berührungszonen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Der Austausch von Gütern, Kapital und Arbeitskräften war mit zwischenmenschlichen Kontakten und dem Austausch von Erfahrungen eng verflochten. Das letzte Kapitel behandelt die Beziehungen zwischen den Kolonisten und dem Staat und seinen lokalen Repräsentanten, beginnend mit Konflikten in den Quarantänestationen während der Einwanderung über die Kommunikation mit Aufsehern der Kolonialverwaltung bis zum Verhalten der Kolonisten während des Krimkriegs und den Problemen, die sich aus der Formierung neuer, dem Staat suspekter, religiöser Bewegungen ergaben.

Das Buch überzeugt durch seine originelle Herangehensweise und zugleich durch die akribische Auswertung einer Vielzahl von Quellen aus ukrainischen und russischen Archiven. Nicht alle Befunde, die hier als neu daherkommen, sind so grundlegend neu, wie es der Autor suggeriert. An manchen Stellen hätte man sich eine explizitere Bezugnahme auf vorhandene Literatur gewünscht, die zwar durchaus erwähnt, aber zuweilen doch ein wenig heruntergespielt wird. Dieses Monitum am Rande soll aber den Wert des Buches nicht schmälern. Es wird seine Leser nicht nur im Kreis der Spezialisten für russlanddeutsche Geschichte finden, sondern sei allen empfohlen, die sich mit russischer Geschichte im 19. Jahrhundert befassen und neue lebensweltliche und anthropologische Einblicke gewinnen möchten.

Dietmar Neutatz, Freiburg

Zitierweise: Dietmar Neutatz über: Dmytro Myeshkov Die Schwarzmeerdeutschen und ihre Welten 1781–1871. Klartext Verlag Essen 2008. = Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 30. ISBN: 978-3-89861-715-4, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 290: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Neutatz_Myeshkov_Die_Schwarzmeerdeutschen.html (Datum des Seitenbesuchs)