Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 664-665

Verfasst von: Christian Noack

 

Marcus Köhler: Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahrhundert. Göttingen: V&R unipress, 2012. 299 S., 48 Abb. ISBN: 978-3-8471-0013-3.

In der jüngeren Forschung ist die Rolle der Ethnographie als Leitwissenschaft in der Entwicklung einer überwiegend als neo-imperial bewerteten sowjetischen Nationalitätenpolitik immer wieder betont worden. Von daher erscheint Markus Köhlers Ansatz vielversprechend, die Rolle der Ethnographie für die Entwicklung imperialer Herrschaftsdiskurse im sich verwestlichenden Russländischen Reich des 18. Jahrhundert näher zu untersuchen.

In den ersten Kapiteln legt Köhler die Grundlage seiner Argumentation, indem er den besonderen Charakter Russlands als Landimperium mit einer sich ständig verschiebenden Grenzregion betont, was implizit eine unablässige Veränderung der „Erfahrungsregion der ‚Fremde‘“ bedeutete. Dies ist für ihn ein entscheidender Unterschied zu den zeitgenössischen europäischen Überseeimperien. Kenntnis- und faktenreich wird zudem die Entwicklung der Völkerkunde in Russland nachgezeichnet. In diesem Sinne liefert Köhler einen beachtlichen Beitrag zu Geschichte des Wissenstransfers und der Entwicklung der Völkerkunde in Russland.

Den umfangreichen Kern des Buches bildet das vierte Kapitel, in dem die ethnographischen Berichte von den Expeditionen Gmelins, Stellers, Falks, Pallas oder Georgis in die südliche und östliche Peripherie des Reiches untersucht und dokumentiert werden. Köhler zeigt, dass die Berichte über die Völker Sibiriens und des Kaukasus, ganz im Sinne der Ethik der Aufklärung, mit pejorativen Werturteilen sehr zurückhaltend waren.

Was den imperialen Kontext und damit die politische Bedeutung der Expeditionen angeht, erscheinen einige der Generalisierungen, die Köhler auf der Basis seiner Quellen vornimmt, jedoch zweifelhaft. War Russland im 18. Jahrhundert (und später, wie es die russische Historiographie immer wieder suggeriert hat) tatsächlich keine imperiale Macht, die auf Überlegenheitsdiskursen aufbaute, wie wir sie in den zeitgenössischen europäischen Überseeimperien finden? Die vorgebliche Abwesenheit eines negativ zu bewertenden „Barbarendiskurses“ im 18. Jahrhundert dürfte eher der Auswahl der Quellen, d. h. der Expeditionsberichte, als den tatsächlichen Gegebenheiten geschuldet sein. In der Tat haben mit der Verwestlichung in der Folge der Petrinischen Reformen auch orientalistische Sichtweisen in Russland Einzug gehalten, wie etwa Michael Khodarkovsky gezeigt hat. Diese Sichtweisen müssen sich weder in den Berichten der zumeist aus dem Westen stammenden Mitglieder der Akademieexpeditionen finden, noch in der imperialen Herrschaftspraxis durchgehend niederschlagen. Sie ließen sich aber beispielsweise an der wechselhaften Geschichte der religiösen Konvertierungsbemühungen im 18. Jahrhundert gut belegen. Allerdings setzte ein breiter Begriffswandel, der die Abwertung der „orientalischen“ Peripherie des Reiches illustriert, erst im 19. Jahrhundert ein, wie etwa die Semantik der sozialen Kategorie der inorodcy verdeutlicht.

Erst im abschließenden fünften Kapitel, dass sich im Wesentlichen wiederum mit der Modernisierung und mit der Popularisierung von Wissenschaft befasst, tauchen imperiale Diskurse am Rande auf, die verdeutlichen, dass Russland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts westliche imperiale Diskurse emulierte, etwa wenn von Sibirien als dem russische „Eldorado“ oder der Lena als „russischem Nil“ gesprochen wurde (S. 235).

Es ist also nicht ganz einzusehen, dass das wissenschaftliche Zählen und Messen der Ethnographen einem ausgesprochen imperialen Herrschaftsverständnis geschuldet gewesen sein muss. Vielmehr lässt sich die ‚Verwissenschaftlichung‘ von Herrschaftsdiskursen und obrigkeitsstaatlichem Handeln in 18. Jahrhundert überall feststellen. Was die russischen Verhältnisse von denen im übrigen Europa unterschied, ist das Festhalten an Vielfalt und Größe als zentralem Pfeiler imperialen Machtbewusstseins über das 18. Jahr­hundert hinaus. Noch die erste gesamtrussische Volkszählung illustrierte das Spannungsverhältnis zwischen der Demonstration imperialer Vitalität durch Ausdehnung und Vielfalt einerseits und dem Versuch andererseits, die Dominanz einer ostslawisch-orthodoxen und nunmehr als staatstragend verstanden Bevölkerungsmehrheit zu dokumentieren.

Christian Noack, Amsterdam

Zitierweise: Christian Noack über: Marcus Köhler: Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahrhundert. Göttingen: V&R unipress, 2012. 299 S., 48 Abb. ISBN: 978-3-8471-0013-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Noack_Koehler_Russische_Ethnographie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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