Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 283-285

Verfasst von: Andreas Oberender

 

Fraser J. Harbutt Yalta 1945. Europe and America at the Crossroads. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2010. XXX, 438 S. ISBN: 978-0-521-85677-5.

Die Diplomatie der „Großen Drei“ während des Zweiten Weltkrieges gehört zu denjenigen Themen der Zeitgeschichte, die quellenmäßig sehr gut dokumentiert sind und von der Forschung besonders gründlich aufgearbeitet wurden. Das anhaltend hohe Interesse an der alliierten Weltkriegsdiplomatie verdankt sich nicht zuletzt der Frage, warum die Zusammenarbeit der Verbündeten nach Kriegsende in Konfrontation umschlug und schließlich in den Kalten Krieg mündete. Jede neue Studie, die das amerikanisch-britisch-sowjetische Dreiecksverhältnis noch einmal in den Blick nimmt, steht unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Sie muss entweder neue Quellen erschließen, oder sie muss gängige Interpretationen in Frage stellen und mit überzeugenden Argumenten revidieren. Wie sich beides miteinander verbinden lässt und wie fruchtbar der Ertrag eines solches Vorgehens sein kann, zeigt das Buch des amerikanischen Historikers Fraser Harbutt. Der Autor gehört zu den namhaftesten Vertretern der Diplomatiegeschichte, einer Disziplin, die gerade in den USA viele Anhänger besitzt. Ein stark personalisiertes Geschichtsverständnis, stupende Quellenkenntnis sowie minutiöse Rekonstruktion politischer Entscheidungsprozesse und diplomatischer Abläufe sind ihre Markenzeichen. Neben offiziellen Akteneditionen hat Harbutt für seine Studie in großem Umfang unveröffentlichte Quellen herangezogen, vor allem Nachlässe amerikanischer und britischer Politiker und Diplomaten sowie die Archivbestände des Londoner Foreign Office. Russischsprachige Quellen und Sekundärliteratur hat er hingegen nicht benutzt, was zumindest aus Sicht von Osteuropahistorikern als Manko zu werten ist.

Anders als es der Buchtitel vermuten lässt, befasst sich Harbutt nicht ausschließlich mit der Konferenz von Jalta im Februar 1945. Seine Darstellung setzt 1941 ein, als die Sowjetunion durch den deutschen Überfall zu einer Annäherung an Großbritannien und die USA gezwungen wurde, und endet mit der Iran-Krise des Jahres 1946, die Harbutt zufolge als Beginn des Kalten Krieges anzusehen ist. Wie nicht anders zu erwarten, stehen Roosevelt, Churchill und Stalin nebst ihren Spitzendiplomaten und außenpolitischen Beratern im Zentrum der Darstellung. Ausgangspunkt des Buches ist die Kritik des Autors an der traditionellen Auffassung, wonach schon während des Krieges eine Ost-West-Polarisierung klar erkennbar gewesen sei. Harbutt plädiert dafür, die Lagerbildung des Kalten Krieges nicht auf den Weltkrieg zurückzudatieren, und er zeigt eingangs anschaulich, wie weit Großbritannien und die USA davon entfernt waren, ein „westliches“ Lager zu bilden. In Wirklichkeit war ihr Verhältnis distanziert und ein reines Zweckbündnis. Großbritannien und die USA verfolgten zwar eine gemeinsame militärische Strategie, vertraten jedoch in Bezug auf die europäische Nachkriegsordnung keine einheitliche Position. Roosevelt bekundete lange demonstratives Desinteresse an Europas Zukunft und unterbreitete keinerlei konkrete Vorschläge, wie die Atlantik-Charta nach dem Krieg in die Praxis umgesetzt werden sollte.

Churchill und Stalin war das nicht unwillkommen, da beide entschlossen waren, die europäischen Verhältnisse ohne amerikanisches Zutun zu ordnen. Das von der Forschung vernachlässigte britisch-sowjetische Zweierverhältnis müsse, so Harbutt, stärker gewichtet werden als bisher. In Anbetracht des amerikanischen Isolationismus der Zwischenkriegszeit gingen Churchill und Stalin bis Ende 1944 davon aus, dass sich die USA nach dem Sieg über Hitler nicht in Europa engagieren würden und es folglich allein Aufgabe Großbritanniens und der Sowjetunion sein werde, eine tragfähige europäische Friedensordnung zu schaffen. Dem überkommenen Großmachtdenken verhaftet, arbeiteten Churchill und Stalin zielstrebig auf eine Abgrenzung der Interessen- und Einflusssphären hin, gipfelnd in der berühmten Prozentregelung vom Oktober 1944. Roosevelt begann sich erst für Europas Zukunft zu interessieren, als ihm dämmerte, dass sich die „unverbesserlichen“ Europäer anschickten, erneut die – aus amerikanischer Sicht diskreditierten – Instrumente herkömmlicher Diplomatie anzuwenden. Um Churchills und Stalins Pläne zu durchkreuzen, betrieb Roosevelt mit verdoppeltem Eifer die Gründung der Vereinten Nationen, einer neuen Weltorganisation, die althergebrachter Großmachtpolitik und ihren fatalen Folgen einen Riegel vorschieben sollte. Ständig zwischen prinzipienstrengem Idealismus und realpolitischer Kompromissbereitschaft schwankend, verstrickte sich der Präsident in folgenschwere Widersprüche: Schon in Teheran und nochmals in Jalta gewährte er Stalin freie Hand in Osteuropa, um die Sowjetunion für die UNO und die Teilnahme am Krieg gegen Japan zu gewinnen. Dann führte Roosevelt die amerikanische Öffentlichkeit in die Irre, indem er den Eindruck erweckte, die Beschlüsse der Konferenz von Jalta seien eine buchstabengetreue Umsetzung der Atlantik-Charta, was sie aber nicht waren. Die Kluft zwischen Roosevelts vollmundigen Verlautbarungen und Stalins Vorgehen in Osteuropa war zwangsläufig so groß, dass es früher oder später zum Konflikt zwischen den Verbündeten kommen musste. Dazu trug auch bei, dass Präsident Truman im Umgang mit der Sowjetunion mehr Prinzipienfestigkeit und weniger Wankelmut an den Tag legte als sein Vorgänger, dessen erratische persönliche Diplomatie mitunter dilettantische Züge trug, wie Harbutt zeigt. Das einstige Kriegsbündnis zerbrach endgültig, als die Sowjetunion im Frühjahr 1946 wegen ihres Vorgehens im Iran vor dem UN-Sicherheitsrat zur Rechenschaft gezogen wurde. Erst zu diesem Zeitpunkt schlossen sich Großbritannien und die USA fest zusammen, um dem vermeintlichen sowjetischen Expansionsdrang entgegenzutreten.

Harbutts Studie überzeugt nicht allein durch die detaillierte und dabei stets gut lesbare Rekonstruktion des diplomatischen Geschehens zwischen 1941 und 1946. Die eigentliche Leistung besteht darin, dass der Autor plastisch herausarbeitet, wie widersprüchlich die Ziele und Interessen der drei Führer waren, sowohl für sich genommen als auch innerhalb der alliierten Dreierbeziehung. Fehlwahrnehmungen und Fehlkalkulationen aller Akteure erschwerten eine Verständigung. Einerseits erkannten Churchill und Roosevelt das sowjetische Sicherheitsbedürfnis an. Andererseits jedoch scheuten beide stets vor der Frage zurück, wie denn die sowjetische Kontrolle über Osteuropa konkret aussehen solle. Churchill, zunehmend besorgt über Stalins Absichten, setzte sich zuletzt doch für Polens Freiheit und Unabhängigkeit ein. Roosevelt hingegen, von Krankheit geschwächt und von Ungeduld getrieben, fiel Churchill in den Rücken und machte in Jalta in der Polen-Frage ein Zugeständnis nach dem anderen, um Stalins Zustimmung für die Gründung der UNO zu erlangen. Stalin wiederum gab sich der Illusion hin, Osteuropa nach eigenem Gutdünken beherrschen und gleichzeitig dauerhaft mit seinen Verbündeten kooperieren zu können. Auch rechnete er nicht mit der Möglichkeit, dass der UN-Sicherheitsrat gegen die Sowjetunion aktiviert werden könnte. Die Ursachen des Kalten Krieges sieht Harbutt in der widersprüchlichen Politik der Westmächte und in Stalins Fehler, nur Roosevelts Pragmatismus ins Kalkül zu ziehen, den moralischen Impetus der amerikanischen Außenpolitik aber auszublenden. Dank einem breiten empirischen Fundament und einer eloquenten Argumentation wirkt diese These überzeugend. Zu guter Letzt beeindruckt das Buch auch durch eine für anglophone Historiker ungewöhnlich geschliffene Sprache.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender über: Fraser J. Harbutt Yalta 1945. Europe and America at the Crossroads. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2010. XXX. ISBN: 978-0-521-85677-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Oberender_Harbutt_Yalta_1945.html (Datum des Seitenbesuchs)

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