Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 325-327
Verfasst von: Andreas Oberender
David R. Stone: The Russian Army in the Great War. The Eastern Front, 1914–1917. Lawrence, KS: University Press of Kansas, 2015. VII, 359 S., 19 Abb., 13 Ktn. = Modern War Studies. ISBN: 978-0-7006-2095-1.
Die militärhistorische Literatur zum Ersten Weltkrieg weist seit langem ein eigenartiges Ungleichgewicht auf. Während Werke über den Kriegsverlauf an der Westfront ganze Bibliotheken füllen, sind Bücher zum Kriegsverlauf in Osteuropa Mangelware. Wie der amerikanische Militärhistoriker David Stone in der Einleitung seines Buches betont, ist dieses Ungleichgewicht nicht zu rechtfertigen und schwer nachzuvollziehen. Im Westen führte der Weltkrieg zu minimalen Veränderungen der Grenzverläufe. Mittel- und Osteuropa hingegen wurden durch den Krieg tiefgreifend umgestaltet. Die Ostfront war alles andere als ein Nebenschauplatz des Ersten Weltkrieges. Ohne den Krieg wäre die Zarenherrschaft nicht zusammengebrochen, hätten die Kommunisten in Russland nicht an die Macht gelangen können. Wer das Revolutionsjahr 1917 verstehen will, der kommt nicht an der Frage vorbei, welchen Verlauf der Krieg an der Ostfront nahm und wie sich der Krieg auf die inneren Verhältnisse Russlands auswirkte. Mit David Stones Buch liegt eine kenntnisreich geschriebene Überblicksdarstellung zum Krieg in Osteuropa vor. Stone schildert den Krieg vornehmlich aus russischer Perspektive, bezieht aber auch die Perspektive des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns ein. Das Buch konzentriert sich strikt auf die Kampfhandlungen an der Ostfront. Nichtmilitärische Aspekte des Krieges (z.B. Besatzungsherrschaft, Gefangene) werden kaum thematisiert.
In den beiden ersten Kapiteln erörtert Stone den Kriegsausbruch und den Zustand der russischen Streitkräfte am Vorabend des Krieges. Neuere Forschungsarbeiten, die Russlands und Frankreichs Anteil am Ausbruch des Ersten Weltkrieges höher gewichten, als es lange Zeit üblich war, haben in Stones Darstellung keine Spur hinterlassen. Stone weist Deutschland und Österreich-Ungarn die Hauptschuld am Kriegsausbruch zu. In seiner Schilderung der Juli-Krise zeigt er das Zarenreich in einer reagierenden Rolle; auf Frankreichs Rolle geht er nicht näher ein. Stone führt aus, dass die zarische Armee den Anforderungen eines modernen Krieges im Großen und Ganzen gewachsen war. Nach der Niederlage gegen Japan (1905) waren die Streitkräfte reorganisiert, vergrößert und mit der neuesten Kriegstechnik ausgestattet worden. Stone benennt aber auch einige Probleme, die die Schlagkraft der russischen Armee beeinträchtigten: Das Bildungsniveau der Soldaten, die zu 85 Prozent aus dem Bauerntum stammten, war niedrig. Im russischen Vielvölkerreich gab es kein Nationalbewusstsein, das die Bauernsoldaten hätte beflügeln können. Die soziale Basis für die Gewinnung von Offizieren war sehr schmal. Zu guter Letzt skizziert Stone, wie sich die Kriegsplanungen des russischen Generalstabes veränderten. Waren die Kriegspläne lange Zeit defensiv angelegt, so erfolgte ab 1908 der Übergang zu offensiven Kriegsplänen. Das geschah auf Drängen des Bündnispartners Frankreich. Im Falle eines deutschen Angriffes auf Frankreich sollte Russland seinen Verbündeten durch eine möglichst rasche Offensive gegen Deutschland entlasten.
Die Kapitel 3 bis 12 bieten einen Überblick des Kriegsverlaufs im Osten zwischen Sommer 1914 und Herbst 1917. Das Buch endet mit Russlands Ausscheiden aus dem Krieg nach dem Oktoberumsturz. Acht Kapitel entfallen auf das Kriegsgeschehen an den einzelnen Abschnitten der Ostfront: Ostpreußen und Baltikum; Russisch-Polen; Galizien; Rumänien. Zwei weitere Kapitel behandeln den Krieg im Kaukasus und die Verhältnisse an der russischen Heimatfront. Das Buch ist als Synthese angelegt. Stone fasst die westliche und russische Forschungsliteratur zum Krieg im Osten zusammen. Da der Kriegsverlauf hinlänglich bekannt ist, fehlt es dem Buch an Überraschungsmomenten. Mehrere Karten helfen dem Leser, Stones Ausführungen nachzuvollziehen. Die einzelnen Kapitel sind bestimmten Phasen und Schauplätzen des Krieges gewidmet und folgen allesamt dem gleichen Schema: Zunächst erläutert Stone, welche strategischen Ziele sich Russland und die Mittelmächte gesetzt hatten, was sie mit ihren Offensiven zu erreichen suchten. Es folgt eine Schilderung des Kriegsgeschehens (Offensiven und Gegenoffensiven). Abschließend zieht Stone Bilanz: Welches Ergebnis hatten die einzelnen Operationen; wie wirkten sie sich auf den weiteren Kriegsverlauf aus?
Stone betont, dass die Herrschaft des Zaren nicht zusammenbrach, weil die russische Armee vernichtend geschlagen worden wäre. Der Zerfall Russlands ging nicht von der Front aus, sondern vom Hinterland. Russland war genauso wenig auf einen langen Krieg vorbereitet wie die anderen Großmächte. Je länger der Krieg dauerte, desto deutlicher zeigte sich, dass das Zarenreich den enormen militärischen und wirtschaftlichen Herausforderungen nicht gewachsen war. Jede enttäuschende Nachricht von der Front erschütterte die fragile Staats- und Gesellschaftsordnung. Zwar errangen die russischen Armeen einige Siege, vor allem in der Anfangsphase des Krieges, aber keiner dieser Siege reichte aus, den Krieg im Osten zu entscheiden. Die russischen Truppen erlitten durchweg unverhältnismäßig hohe Verluste, die sich nur schwer ausgleichen ließen. Russlands unerschöpfliches Reservoir an Soldaten existierte nur auf dem Papier. Unter den russischen Heerführern fehlte es an brillanten Köpfen. Die russische Wirtschaft hatte Mühe, den Materialbedarf der Truppen zu decken. Während die Mittel- und Westmächte ihre Gesellschaften umfassend für den Krieg mobilisierten, belastete und behinderte das wechselseitige Misstrauen zwischen Autokratie und Zivilgesellschaft die russische Kriegsführung. Zur politischen Krise kam im Winter 1916/17 eine akute Versorgungskrise. Nach der Abdankung des Zaren und der Ausrufung der Republik war an eine effektive Fortführung des Krieges nicht mehr zu denken. Zu Tausenden desertierten die kriegsmüden Soldaten. Als Lenin und die Bol’ševiki die Macht an sich rissen, gab es keine russische Armee mehr, die diesen Namen verdiente.
Stone erzählt eine Geschichte, die in Grundzügen jedem vertraut ist, der sich schon einmal näher mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt hat. Das Zarenreich war nicht stark genug, um beide Mittelmächte gleichzeitig niederzuringen. Aber auch den Mittelmächten gelang es nicht, Russland militärisch in die Knie zu zwingen. Mit dieser Pattsituation kamen Deutschland und Österreich-Ungarn besser zurecht als das Zarenreich. Zur Jahreswende 1916/17 waren Russlands Möglichkeiten erschöpft, in die Offensive zu gehen. Die russische Armee konnte allenfalls noch die gegnerischen Truppen binden, aber keine kriegsentscheidende Wende an der Ostfront mehr herbeiführen. Noch vor der Februarrevolution meuterten die ersten russischen Einheiten. Für den Zaren kam es nicht in Frage, die westlichen Verbündeten im Stich zu lassen und aus dem Krieg auszuscheiden. Das starrsinnige Festhalten am Bündnis mit Frankreich und Großbritannien sollte auch der Provisorischen Regierung zum Verhängnis werden. Die Mittelmächte konnten es sich leisten, auf eine Verschärfung der inneren Krise Russlands zu setzen, und ihre Rechnung ging schließlich auf. Die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die Geschichte Russlands lässt sich kaum überschätzen. Wer sich für die Frage interessiert, wie der Krieg zur russischen Doppelrevolution von 1917 beitrug, der wird in David Stones Buch kompetente Antworten finden.
Zitierweise: Andreas Oberender über: David R. Stone: The Russian Army in the Great War. The Eastern Front, 1914–1917. Lawrence, KS: University Press of Kansas, 2015. VII, 359 S., 19 Abb., 13 Ktn. = Modern War Studies. ISBN: 978-0-7006-2095-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Oberender_Stone_The_Russian_Army.html (Datum des Seitenbesuchs)
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