Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 147-149

Verfasst von: Jana Osterkamp

 

Katalin Gönczi: Die europäischen Fundamente der ungarischen Rechtskultur. Juristischer Wissenstransfer und nationale Rechtswissenschaft in Ungarn zur Zeit der Aufklärung und im Vormärz. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2008, XII, 320 S. = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 227. ISBN: 978-3-465-04040-8.

Katalin Gönczi erfüllt mit ihrem Buch ein Desiderat der osteuropäischen Rechtsgeschichte. Der Zugang zur ungarischen Rechtskultur ist vielen aus sprachlichen Gründen versperrt. Die Zurückhaltung innerhalb der hiesigen Wissenschaft geht auch darauf zurück, dass das auf Tradition, Gewohnheit und Übung beruhende ungarische Zivilrecht im europäischen Jahrhundert der Kodifikationen einen Fremdkörper darstellte. Die Betonung der Andersartigkeit der ungarischen Zivilrechtskultur ist ein Topos, den traditionalistisch orientierte ungarische Juristen selbst pflegten. Gönczi geht es in ihrer Monographie um etwas anderes. Sie zeigt eindrucksvoll, wie sich die ungarische Rechtskultur anhand des Vorbilds zeitgenössischer europäischer Rechtsstandards überhaupt erst in einer modernen Form entfalten und in ihrer nationalen Eigenheit entwickeln konnte. Ihr geht es um dasfacettenreiche Netzwerk der rechtswissenschaftlichen Kommunikationin Europa jenseits der zeitgenössischen Nationalisierungsbestrebungen (S. 1).

Gönczi setzt ihr Anliegen, den europäischen Gehalt der modernen ungarischen Rechtskultur zu beschreiben, konzise um. Konzeptionell dienen der Autorin dazu Begrifflichkeiten wie mémoire culturelle, Wissenstransfer, Zentrum und Peripherie sowie Modernisierung. Mémoire culturelle wird verstanden als Wissensspeicher der juristischen Moderne, der über eine Ausbildung im europäischen Ausland, Briefkontakte und Zeitschriftenaustausch für Juristen in Ungarn abrufbar war (S. 2, 79). Dieser Wissenstransfer auf der Grundlage eines funktionierenden Kommunikationsnetzwerks setzt im Vergleich zu bisherigen Modellen wie der Normenrezeption früher ein. Selbst dann, wenn es in einigen Rechtsbereichen nicht zur Rezeption normativer Ordnungen kam, führte der Wissenstransfer zu einer Modernisierung, Professionalisierung und größeren Anschlussfähigkeit der juristischen Disziplin Ungarns an europäische Debatten und Diskussionen.

In ihrem ersten Kapitel zeigt Gönczi die institutionellen Beschränkungen der Rechtswissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert auf. Im Rahmen der Habsburgermonarchie konnte sich ein ungarisches öffentliches Recht nur eingeschränkt entfalten. Verfassungsrechtliche Stellungnahmen zum Status von Ungarn gegenüber dem Herrscherhaus in Wien waren untersagt (S. 20). Auf dem Gebiet des Privatrechts verzögerte die privilegierte Stellung des Adel eine Reform des ständischen Rechts (S. 158 ff.). Die konfessionelle Spaltung des Landes, insbesondere die Nichtzulassung von Protestanten zum Jurastudium, führte zu einem stagnierenden und konservativen Charakter der rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Zugleich beförderte die konfessionelle Trennung jedoch den Brückenschlag nach Europa. Die studentische Bildungsmigration, die für Protestanten unabdingbar wurde, und die protestantischen Gymnasien schufen in Ungarn eine professionelle juristische Parallelkultur. Nach dem Toleranzedikt griff die Obrigkeit im Zeitalter der Bürokratisierung gern auf diese reformbereiten und gut ausgebildeten Juristen zurück (S. 35, 105, 108).

Zentral für das Verständnis des ungarischen Rechtsdiskurses sind die Bildungs- und Kommunikationswege der Juristen. Diese führten im 18. und 19. Jahrhundert häufig nach Deutschlandfür Katholiken nach Halle oder Leipzig, für Protestanten nach Göttingen oder Jena. Wie überaus wichtig das Auslandsstudium war, kann Gönczi anhand von Universitätsmatrikeln, aber auch durch den Nachweis zeigen, dass das Auslandsstudium durch ein weites institutionelles Netzwerk gefördert wurde (S. 54, 216). Die Zulassung zum Auslandsstudium, das den Studenten die Ideenwelt der Aufklärung und später der Französischen Revolution erschloss, kann zugleich alsSeismograph‘ für die wechselnde innenpolitische Liberalität oder Illiberalität des habsburgischen Staates gelten (S. 56, 200). Göttingen etwa wurde zu einem Ort der Begegnung mit europäischen Ideen, aber auch mit der eigenen nationalen Kultur. Die vom deutschen Staatswissenschaftler Schlözer gelehrte Komparatistik entfachte das Interesse für die nationale Geschichte unter den Studenten (S. 58, 82). Die dortige liberale Presse wurde zum bevorzugten Ort des Austauschs über ungarische Rechtsfragen. Diese Medien waren über Leseklubs in Ungarn zugänglich, obwohl sie dort indexierte Bücher rezensierten; auch Buchhändler und Bibliothekare vermittelten Ideen nach Ungarn, wenn auch unter erheblichen Schwierigkeiten (S. 90). Wie Gönczi im dritten Kapitel deutlich macht, führte die Auslandserfahrung nicht nur zu einer Ausdifferenzierung der Rechtswissenschaft, insbesondere auf dem Gebiet der Staatenkunde und Statistik, sondern auch zur Förderung der eigenen Nationalsprache als Wissenschaftssprache (S. 118, 204, 226).

Die rechtswissenschaftlichen Neuerungen am Ende des 18. Jahrhunderts, insbesondere die einsetzende europäische Kodifikationsbewegung, entfalteten in Ungarn zunächst kaum Wirkung. Selbst das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 wurde in Ungarn nicht eingeführt. Nach der Zerschlagung der ungarischen Jakobinerbewegung war jede Reform zum Erliegen gekommen (S. 149). Die Fernwirkung dieser ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und Gesetzesentwürfe sind jedoch nicht zu unterschätzen. Der Einfluss auf die Denker des Vormärz war groß (S. 156). Allerdings werden die wechselseitigen Einflüsse von Politik und Wissenschaft nur dann deutlich, wenn man wie Gönczi die nicht-universitäre Forschung einbezieht. Systematisierungsleistung und Reformbemühen hatten an der Akademie der Wissenschaften, im Landtag, der zahlreiche Anregungen aus dem Ausland heranzog, und selbst an der bischöflichen Bibliothek in Pécs ihren Ort, nicht aber an den Universitäten (S. 196, 214, 224, 251). Einen raschen und unkomplizierten Transferprozess skizziert die Autorin am Beispiel des Handelsrecht (S. 159 ff.). Die europäische Netzwerkstruktur der rechtswissenschaftlichen Diskussion wird zudem exemplarisch an der Reform des Strafrechts beleuchtet; wichtigster Pol hierbei war der Heidelberger Professor Mittermaier (S. 169 ff.). Die Grenzen des ungarischen Rechtsdiskurses zeichnet Gönczi hingegen für die Modernisierung der Eigentumsrechte nach. Die Abschaffung von Großgrundbesitz und das Bemühen um allgemeine Eigentumsfreiheit scheiterten an den Beharrungskräften des ungarischen Adels (S. 159).

Gönczi legt die Funktionsbedingungen eines rechtswissenschaftlichen europäischen Kommunikationsraums dar, der die ungarische Rechtskultur integrierte. Die Ideen der Aufklärung und die Betonung der je eigenen nationalen Geschichte und Sprache führten in der Folge allerdings zu einer Verengung der kommunikativen Kanäle. Das Ungarische als Wissenschaftssprache errichtete Barrieren, wo die kurz zuvor noch in Deutsch oder Latein verfassten Werke leichter zugänglich und verständlich waren. Die herausgehobene Rolle der liasonmen, der Vermittler zwischen den Rechtskulturen, hebt die Autorin daher zu Recht hervor. Gleiches gilt auch für die Gegenwart. Der liasonwoman Gönczi gelingt es, das Verständnis für die ungarische Rechtsgeschichte in ihrem europäischen Zusammenhang zu befördern.

Jana Osterkamp, München

Zitierweise: Jana Osterkamp über: Katalin Gönczi: Die europäischen Fundamente der ungarischen Rechtskultur. Juristischer Wissenstransfer und nationale Rechtswissenschaft in Ungarn zur Zeit der Aufklärung und im Vormärz. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2008, XII, 320 S. = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 227. ISBN: 978-3-465-04040-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Osterkamp_Goenczi_Die_europaeischen_Fundamente.html (Datum des Seitenbesuchs)

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