Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 66 (2018), 1, S. 162-165

Verfasst von: Irina P. Pavlova

 

Craig Brandist: The Dimensions of Hegemony. Language, Culture and Politics in Revolutionary Russia. Leiden: Brill, 2015. 300 S. = Historical Materialism Book Series, 86. ISBN: 978-90-04-23185-6.

Es ist überaus nützlich für Historiker, die sich in erster Linie auf der Grundlage von Archivmaterial faktengeschichtlich mit der Zeit der russischen Revolutionen im Jahr 1917 beschäftigen, sich dem linguokulturologischen, ideologischen Bereich der Revolution zuzuwenden, der von Craig Brandist, Professor für Kulturtheorie und Geistesgeschichte, analysiert wurde. Craig Brandist hat durch seine Werke wiederholt die Notwendigkeit der Geistesgeschichte betont, und so erschien das Buch auch passenderweise in der Serie Historical Materialism.

Unter dem revolutionären Russland versteht der Autor das Russland der gesellschaftlich-politischen Umwälzungen in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die Quellengrundlage dieses Werkes bilden Werke von Marxisten und anderen Gesellschafts­wissenschaftlern jener Zeit. Im Zentrum der Monographie über das Phänomen der „Hegemonie“ stehen die Werke von Antonio Gramsci, eines Journalisten, Philosophen, Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Italiens, Begründers des „Neomarxismus“. Gramsci wurde von den UdSSR-Ideologen als Opportunist betrachtet, und sein schriftliches Werk wurde dementsprechend nur in geringen, ausgewählten Passagen veröffentlicht, dennoch galt er als „wichtiger Marxist“. Gramsci besuchte Sowjetrussland und arbeitete im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale. Während der Inhaftierung durch die italienischen Faschisten schrieb er seine berühmten Gefängnishefte (1927–1937) und viele andere Werke, in denen er die Idee der Hegemonie entwickelte.

Craig Brandist zeigt die gegenseitige Beeinflussung von Gramsci und russischen Marxisten, die bedeutsamer war, als man es sich bisher vorstellen konnte (S. 10). Die Theorie von der Hegemonie als ideologischer Führung basiert auf den Ideen G. Plechanovs und P. Akselrods. Es ist wichtig, dass der Autor die Entwicklung der „revolutionären“ Sprache als einen Teil des allgemein-theoretischen, wissenschaftlichen, intellektuellen linguistischen Feldes des russischen Kaiserreiches betrachtet, wobei er den Marxismus dem Positivismus zuordnet. Der Autor weist darauf hin, dass sich der Apparat der Hegemonie des Bürgertums in einem kaum entwickeltem Zustand befand und der Apparat der „Arbeiter“-Hegemonie von Anfang an in einer vorteilhaften Position war (S. 224).

Da Gramsci den Marxismus für eine praktische Philosophie hielt, war für ihn die schrittweise praktische Umsetzung ideologischer Vorstellungen im Zuge der Russischen Revolution bedeutsam. Nach der Revolution standardisierte sich die politische Sprache schnell, was als ein wichtiger Beleg für die Errichtung der Hegemonie der Arbeiterklasse (d. h. in Wirklichkeit der Hegemonie der bolschewistischen Partei) zu sehen ist. Die Entwicklung des gesellschaftlichen Denkens wurde während der Sowjetzeit durch eine bedeutende Zahl (nämlich etwa 20) von dem Volkskommissariat für Bildungswesen unterstellten Forschungs-, Aufklärungs- und Propaganda-Instituten sowie von Akademien, Gesellschaften usw. vorangetrieben. In der festzustellenden sowjetischen Terminologie wurde das Proletariat als Hegemon im Verhältnis zu Bauernschaft und unterdrückten Nationen betrachtet.

Das Buch besteht aus sieben Kapiteln, die der zeitlichen Abfolge und Ausrichtung der theoretischen Forschungen von Marxisten und anderen Gesellschaftswissenschaftlern folgen, die das Hegemonie-Konzept beeinflusst haben.

Die ersten Kapitel sind den theoretischen Erkenntnissen russischer Marxisten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und während der Revolution von 1905 gewidmet. Der Autor analysiert die Entstehung (Marx, Engels) und Entwicklung des Begriffes der Hegemonie in den Werken verschiedener Marxisten (Plechanov, Akselrod, Martinov, Trockij, Lenin, Bogdanov u. a.). Untersucht werden die „Quellen“ der Hegemonie-Ideen Gramscis im Bereich der Kultur, nämlich die Werke Lunačarskijs, Gorkijs und Maksimovs, und zwar mit Blick auf die Ursprünge der Idee von der Notwendigkeit der Bildung einer eigenen Philosophie der Arbeiterklasse, um die „kulturelle Hegemonie des Proletariats“ zu erringen. Das Problem der Sprache als eines Instruments der Hegemonie sowie die diesbezüglichen Besonderheiten in einem multinationalen Raum werden separat betrachtet. Diese Ideen traten während der Ereignisse von 1917 bei der Bildung des „Proletkults“ zutage.

Im zweiten Kapitel werden – zur Überraschung des Lesers – so „traditionelle“ intellektuelle Schulen des späten Russischen Kaiserreiches analysiert wie die orientalistische, die philologische und die ethnophilologische. Dies stellt offenkundig den Versuch dar, den Marxismus in einen allgemeinen intellektuellen Kontext einzufügen. Die Bedeutung dieses Versuches ist klar – es geht um die Schaffung eines komplexen ideologischen und wissenschaftlichen Gesamtbildes, in das sich Russland einfügt, da auf diesem Gebiet der Ideengeschichte aus verständlichen Gründen bislang eine politisierte „sozialistische“ Herangehensweise vorherrscht. Der Autor benennt mit Recht die Probleme des Konzepts der Hegemonie im multinationalen Russland in den Werken der klassischen Geisteswissenschaftler, selbst wenn der Terminus Hegemonie in ihren Texten fehlt. In ihnen ging es um die Vorherrschaft des imperialen Staates über die Kolonien. Interessant ist hier das Sujet der Entwicklung des marxistischen Gedankens vor dem Hintergrund und unter dem Einfluss östlicher Lehren z. B. durch N. Marr, W. Rosen, A. Veselovskij und S. Oldenburgskij.

Der Entwicklung der Hegemonie-Idee unmittelbar während der Russischen Revolution (vor allem durch das gesprochene Wort, also in verschiedenen Reden, aber auch durch Veröffentlichungen in Zeitschriften) ist das dritte Kapitel gewidmet. Im Zuge der Revolution begann sich das theoretische Konzept der Hegemonie in die Idee der realen Hegemonie des Proletariats unter der Bedingung der erheblichen Übermacht der bäuerlichen Bevölkerung zu verwandeln. Der Autor zeigt, dass sich die Entwicklung des linguistischen Feldes der Revolutionssprache auf der schwierigen Grundlage eines multinationalen, multilingualen und multikonfessionellen Staates vollzog.

Das vierte Kapitel betrachtet das „Hegemonie-Projekt“ unter den Bedingungen des notwendigen „Zusammenschlusses“ zwischen der Stadt und dem Dorf, zwischen den Arbeitern und den Bauern in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik (NĖP). Es ist interessant, dass es im Lehrbuch für die Geschichte der Russischen Kommunistischen Partei von G. Sinovev  aus dem Jahr 1926 ein Kapitel gibt, das eigens der Geschichte der Idee der Hegemonie des Proletariats gewidmet ist. Brandist bringt die Idee der Hegemonie in eine Wechselbeziehung mit dem Taylorismus, mit den Versuchen, eine „wissenschaftliche Organisation der Arbeit“ während des NĖP in der UdSSR zu schaffen.

Das fünfte Kapitel vermittelt ein Bild von der Entwicklung der Linguistik in der UdSSR in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, als – angestoßen von der Entwicklung der Psychologie und des Positivismus in den wissenschaftlichen Zentren Moskau und Leningrad – ein Umdenken bezüglich des Wesens und der Aufgaben von Sprache stattfand.

Das sechste Kapitel ist den Problemen des ideologischen Verschmelzens der Arbeiterklasse und der Bauernschaft im nationalen Sinne gewidmet. So sprach z. B. in der Ukraine das Proletariat meist Russisch, die Bauernschaft hingegen Ukrainisch. Wie der Autor darlegt, erfolgte in dieser Periode mit dem Ziel der „Kulturhegemonie des Proletariats“ eine aktive Standardisierung der Begriffe in den Turksprachen.

Das siebte Kapitel zeigt, wie, beginnend mit dem ersten Fünf-Jahres-Plan (1928–1933), das Konzept der Hegemonie vulgarisiert wurde, so dass es sich schließlich für die Ideologen der Macht als ungeeignet erwies.

Im ganzen betrachtet, trennt der Autor zwischen den Ideen Gramscis und dem radikalen Leninismus und Marxismus. Gramsci meinte, die „Bürgergesellschaft“ (als die reale Verkörperung der Hegemonie) bilde den ideologischen Überbau, während die „politische Gesellschaft“ den Staatsapparat darstelle. Die Arbeiterklasse und die kommunistische Partei müssten deshalb den Kampf nicht nur um die politische Macht, sondern auch um die Hegemonie als ideologische Herrschaft führen. Darum – so Gramsci – komme so große Bedeutung den Ideologen zu, die auch politisch aktiv seien. Demnach konnten Vorkämpfer der Hegemonie, konnten „Intellektuelle des Kampfes“ nur Theoretiker sein, die intellektuelle und praktische politische Arbeit miteinander zu verbinden in der Lage waren (Rolle der revolutionären intelligencija). Gramscis Ideen sind dafür geeignet, den kulturellen Autoritarismus der Macht zu bestreiten und das Erbe der Kolonialherrschaft sowie  den eurozentrischen Universalismus zu überwinden. Brandist vertritt die Meinung, dass Gramsci neben einzelnen sowjetischen Denkern wie N. Bachtin und L. Vygotskij als Vorläufer eines gänzlich neuen Paradigmas aufgetreten sei, das fähig gewesen sei, den Progressivismus seiner intellektueller Umgebung zu übertreffen (S. 223).

Im großen und ganzen ist das Werk logisch aufgebaut. Eine seiner wesentlichen Stärken stellt die Verflechtung der politischen Ereignisse mit der Entwicklung des politischen Denkens dar. Trotz des durch das Thema vorgegebenen philosophischen Ansatzes und Stils ist das Buch einfach zu lesen. Es enthält auch Informationen über die Autoren, die bisher über das ideengeschichtliche Thema gearbeitet haben. Brandist hält dabei nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg, sondern tritt in eine Diskussion mit diesen Autoren und ihren Positionen ein. Vom Standpunkt einer klassisch“-historischen Studie betrachtet mangelt es dem Buch an konkreten historischen Materialien, welche die Umsetzung der Hegemonie-Idee im revolutionären Russland zeigen könnten. Sehr nützlich für eine weitere Beschäftigung mit der Geschichte der revolutionären Theorie ist das Personenglossar, das 208 Namen von marxistischen Theoretikern sowie Praktikern der Revolution aus Russland und darüber hinaus umfasst.

Obwohl die Postulate der in Brandists Monographie thematisierten Theoretiker meistens veraltet sind, sind doch manche vom Autor vorgestellten Ideen Antonio Gramscis modern geblieben wie etwa dessen Überzeugung, dass die herrschende Klasse mittels der Hegemonie das gesellschaftliche Werte- und Normensystem manipulieren kann, indem sie neue Normen der Weltanschauung formuliert und das gesellschaftliche Bewusstsein in ihrem Sinne unter Druck setzt. Die Idee von der Macht ideologischer Mythen wurde durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und wird auch in unserer Gegenwart erneut  bestätigt. Manipulierte Untergebene willigen ein, ebensolche zu sein und nach den Regeln der herrschenden Macht zu handeln.

Irina P. Pavlova, Krasnojarsk

Zitierweise: Irina P. Pavlova über: Craig Brandist: The Dimensions of Hegemony. Language, Culture and Politics in Revolutionary Russia. Leiden: Brill, 2015. 300 S. = Historical Materialism Book Series, 86. ISBN: 978-90-04-23185-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Pavlova_Brandist_The_Dimensions_of_Hegemony.html (Datum des Seitenbesuchs)

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