Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 336-339

Verfasst von: Irina P. Pavlova

 

Louise McReynolds: Murder Most Russian. True Crime and Punishment in Late Imperial Russia. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2013. XI, 274 S., 37 Abb. ISBN: 978-0-8014-5145-4.

Allgemein wird behauptet, die Justizreform im Russischen Reich sei die radikalste der Reformen unter Alexander II. gewesen. Das Thema stößt noch immer in der Forschung auf Interesse, aber in der Regel werden das Gesetzeswerk, der Strafvollzug und das Justizsystem untersucht. Die Autorin hat sich die schwierige Aufgabe gestellt, Gesetzesverstöße und nicht den Entstehungsprozess von Gesetzen selbst zu analysieren. Durch die ‚Zurschaustellung‘ der öffentlichen Meinung bei einer Reihe von Morden versucht die Autorin herauszufinden, wie die Reformen den Weg aus offiziellen Erlassen ins tägliche Leben fanden. Ausgangspunkt dabei ist nicht die Analyse von Verbrechen, sondern das, was diese Vorfälle für die Menschen, die daran ‚Anteil nahmen‘, bedeuteten. Die Autorin geht davon aus, dass die Art, wie Verbrechen gesehen und Verbrecher abgeurteilt wurden, viel über die kulturellen Werte, die politischen Normen und die sozialen Erwartungen in Russland aussagt.

Die Struktur des Buches wird von der Chronologie bestimmt: Die ersten vier Kapitel befassen sich mit der Vorbereitung und Durchführung der Justizreformen sowie mit der Frage, wie sich die Menschen daran gewöhnten, dass nunmehr Morde von einem Gericht neuen Typus untersucht wurden. Es schließen sich vier Kapitel an, in denen es um die Herstellung des inneren Friedens nach der ersten Revolution und um die Ereignisse während des Ersten Weltkrieges geht, als man dem gewaltsamen Tod wieder mehr Aufmerksamkeit schenkte und Morde auf der Kinoleinwand erschienen. Jedes Kapitel leitet die Autorin mit der Geschichte eines konkreten Mordes, eingebettet in den zeitlichen Rahmen und das örtliche Umfeld, ein.

Als Quellen der Untersuchung dienten Sudebnyj vestnik (das offizielle gerichtliche Mitteilungsblatt), Zeitungsmeldungen, Plädoyers von Rechtsanwälten, Aufzeichnungen (Memoiren) von Untersuchungsrichtern, Periodika, Diskussionen in Zeitschriften, Kriminalliteratur, protokollierte Geständnisse von Mördern und, wie es die Autorin selbst nannte, zufällig entdecktes Archivmaterial.

Louise McReynolds ist der Meinung, dass die Reaktion auf einen Mord in Russland nach den Reformen ein Spiegel des Verhältnisses zwischen Autokratie und Gesellschaft war: Während erstere nicht völlig auf ihre grenzenlose Macht verzichten wollte, brachte letztere nachdrücklich ihr Gerechtigkeitsgefühl in der Rechtsprechung zum Ausdruck. Das Hauptargument der Autorin dabei ist, dass die Autokratie in den Augen der Gesellschaft häufig ein größerer Missetäter als der Angeklagte war. Ein prominentes Beispiel ist der Fall der Vera Zasulič, einer narodnica (Volkstümlerin), die auf einen General schoss und freigesprochen wurde. Im Russischen Reich, wo sich der Staat sehr stark in das Privatleben einmischte, reflektierten Rechtsanwälte mit ihren Auftritten und Handlungen gesellschaftliche Erwartungen, was sich an der großen Zahl an Freisprüchen (fast 40 Prozent), ablesen lässt. Die Autorin behauptet, dass die Frömmigkeit in Russland das Gefühl für die Durchsetzung des Rechts im Zaume hielt, weil das orthodoxe Christentum zu Vergebung und Barmherzigkeit aufforderte. Die Beschränkung der persönlichen Freiheit im Staat riefen allgemein das Mitgefühl mit jenen hervor, denen der Staat mit Verbannung und Straflager drohte. Die Willkürmöglichkeiten der Autokratie in Verbindung mit der Ablehnung des Prinzips der Unversehrtheit der Person brachten einer angeklagten Person Sympathien ein, da jeder der im Gericht Anwesenden durch den Staat angreifbar war.

Das Geschworenengericht war die demokratischste Institution im Russischen Reich. Es muss daher nicht verwundern, dass ihm in der Monografie viel Platz eingeräumt wird. Die Autorin analysiert die Diskussionen, die die Einführung der Geschworenengerichte begleiteten, und die Rolle des Zaren, der diese Idee unterstützte, um vor seinem Volk zutiefst verständnisvoll zu erscheinen. Ein wichtiges Kapitel befasst sich mit der Zusammensetzung der Geschworenengerichte nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Nationalität, mit der Berufung von Geschworenen, mit dem Prozedere der Beschlussfassung und mit organisatorischen Problemen bei der Tätigkeit der Geschworenen. Besonders betont werden u. a. die Schwierigkeiten ihrer praktischen Arbeit (Probleme bei der Anreise und mit der Unterkunft usw.) sowie die religiösen Gepflogenheiten während eines Prozesses: Vor der Beschlussverkündung beteten die Geschworenen dreimal.

Offenbar um dem Ansatz der vergleichenden Methode Genüge zu tun, werden in dem Buch auch die Geschworenengerichte in anderen Ländern, namentlich in Großbritannien, den USA, Frankreich und Preußen, analysiert. Die Rechtskultur Russlands unterlag auch dem Einfluss der dominanten Konfession, der orthodoxen Kirche, vergleichbar mit dem Einfluss des Puritanismus auf die amerikanische Rechtsprechung. Aufgrund des Vergleichs zieht McReynolds den Schluss, dass Mitgefühl für Angeklagte eine hervorstechende Eigenschaft russischer Geschworener war, dass russische Geschworenengerichte zum „Moralisieren von Schuld“ und unter dem Einfluss „des weit verbreiteten Strebens nach Barmherzigkeit und Versöhnung“ zu einem allgemein zu beobachtenden Fatalismus neigten (S. 267–268). Der Akzent lag in den Gerichten nicht auf dem Verbrechen, sondern auf der Person. Die Geschworenen im Russischen Reich betrachteten die Person an sich. In dem Buch werden Belege dafür angeführt, dass russische Geschworenengerichte eher an die Gerichte des revolutionären Frankreichs erinnerten. Beim Vergleich der Situation in Russland mit anderen Ländern stellte sich heraus, dass es hier einen höheren Prozentsatz an Freisprüchen gab. In Russland war man mitfühlender als die Briten, wenn es um die Anerkennung von Unzurechnungsfähigkeit ging, und weniger tolerant bei sexuellen Motiven als die Franzosen. Die Kultur des Fatalismus förderte die sehr sentimental geprägte Vermenschlichung eines Verbrechens, glaubt die Autorin. Typisch sei, dass die Russen sowohl Mörder als auch Opfer von Verbrechen zu Wort kommen ließen und ihnen Unterstützung anboten.

Die Autorin ist der Meinung, dass sich die Rechtsprechung nicht auf die zwölf Personen des Gerichts beschränkte, denn viele Bürger Russlands verfolgten die großen Gerichtsprozesse über die Presse. Sie fühlten sich vom atemberaubenden Charakter dieser von Emotionen geprägten Welt angezogen. Gerichtsbeobachter waren „in einer dem zugänglichen Raum angemessenen Zahl“ zugelassen. Das führte dazu, dass die Plätze in den Gerichtssälen wie Theaterplätze verkauft wurden: ein Ausdruck eines gesteigerten gesellschaftspolitischen Interesses. Aus der Aufmerksamkeit, die man Morden, Gerichten und Verurteilungen entgegenbrachte, entwickelte sich das Phänomen der Kriminalromane, die als Mittler zwischen Wahrheit und Fantasie fungierten.

Das Geschworenengericht als eine Institution, die den Bürgern die aktive Teilhabe an der Lösung von Fragen mit einem tieferen politischen Sinn ermöglichte, trug dazu bei, die Revolution von 1905 zu entfachen. Allerdings ist das eine hypothetische Behauptung, da die Revolution auch in vielen Regionen des Russischen Reiches virulent wurde, in denen es noch keine Geschworenengerichte gab, beispielsweise in Sibirien, im Kaukasus oder im Norden des europäischen Teils Russlands.

Die Autorin wertet Morde, Mordtypen, Mörder usw. statistisch aus und verweist zurecht darauf, dass Morde in Städten ein Phänomen der Urbanisierung sind. Die Zahl der Morde stieg insbesondere nach der Revolution von 1905 an. Die Autorin untersucht die Auswirkung der Justizreform am Beispiel von realen Akteuren wie Ermittlern, Polizisten, Staatsanwälten usw. Sie klärt über den Wert von deren Arbeit in der Zeit nach den Reformen und über die Probleme auf, die bei der Arbeit entstanden: unzählige schriftliche Beschwerden, ein ungeregelter Arbeitstag, Einmischung des Justizministers usw.

Künstlich an das Thema angehängt erscheint das Kapitel mit der Reflexion der Modernisierungstheorie. Nach Meinung der Autorin bringt eine Modernisierung, wie die Reformen es waren, nicht nur Hoffnungen, sondern auch Instabilität und Unsicherheit mit sich. Das Besondere an Russland war die Modernisierung mithilfe des Staatsapparates. Die Autorin sieht die Gerichte als eine Bühne, auf der die Auseinandersetzung um die Reformen der Öffentlichkeit präsentiert wurde: „Eine Modernisierung konnten alle in die Wege leiten, die an die Herstellung von Gerechtigkeit beteiligt waren.“ Denker, darunter auch bekannte Schriftsteller, schrieben damals in Russland über den Positivismus als den besten Weg zum Fortschritt.

Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass das Russland der imperialen Periode eine moralische und barmherzige Gesellschaft besaß. Die Menschen in Russland nutzten das Justizsystem, um den Weg vom Untertanen zum Staatsbürger zu gehen (S. 2). Die Prozesse, in denen Mordfälle – von der Sache her die interessanten Verbrechen – verhandelt wurden, boten eine öffentliche Plattform, auf der die Gesellschaft den Staat zu politisch wichtigen Fragen herausfordern konnte.

Dabei stellte die Geschichte des Strafgerichts die Unfähigkeit des Russischen Reiches unter Beweis, sich zu dem zu entwickeln, was man im Deutschen „Rechtsstaat“ nennt. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung darüber führte zur Errichtung der Diktatur der Bol’ševiki. Diese bereiteten der Plattform des Geschworenengerichts ein Ende. Der „sowjetische“ Mord nach 1917 unterschied sich kulturell vom „rein russischen“ Mord. Die russische Sichtweise, dass ein Verbrecher zur Reue und Wiedergeburt fähig ist, wurde, auch wenn die Autorin das explizit nicht ausspricht, vom Bild des Klassenfeindes abgelöst.

Zentrales Thema des Buches ist das Misstrauen, das in Russland nach der Reform zwischen Gesellschaft und Justizsystem herrschte – ein Misstrauen, das auch heute noch zu beobachten ist. Leider ist die Darstellung mit den Namen von Verbrechern, Opfern, Ermittlern und anderen handelnden Personen überladen, was das Lesen ziemlich erschwert. Darüber hinaus ist der Druck so winzig, dass der Leser oft wie ein Detektiv mit der Lupe arbeiten muss.

Irina P. Pavlova, Krasnojarsk

Zitierweise: Irina P. Pavlova über: Louise McReynolds: Murder Most Russian. True Crime and Punishment in Late Imperial Russia. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2013. XI, 274 S., 37 Abb. ISBN: 978-0-8014-5145-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Pavlova_McReynolds_Murder_Most_Russian.html (Datum des Seitenbesuchs)

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