Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 57 (2009) H. 3, S.  460-462

Dagmara Jajeśniak-Quast [u.a.] (Hrsg.) Soziale Konflikte und nationale Grenzen in Ostmitteleuropa. Festschrift für Helga Schultz zum 65. Geburtstag. Berliner Wissenschafts-Verlag Berlin 2006. 210 S., ISBN 3-8305-1209-0.

Die Nationalstaatsbildung und die Dynamik von sozialen Konflikten stellen analytisch eng verwandte Themenfelder dar: Sowohl die Gestaltung nationaler Einheiten und die Aneignung nationaler Grenzen als auch die Entfaltung und mögliche Eskalation sozialer Konflikte führen zu einem Komplex von Fragen, der die Artikulation kollektiver Interessen und den Wandel der Identifikationsmuster unter die Lupe nimmt. Im vorliegenden Band, der Helga Schultz von der Europa-Universität Viadrina als Festschrift gewidmet ist, werden in 15 Beiträgen die Schnittstellen betrachtet, die auch in ihrem Werk dominant sind: Ethnizität, Wirtschaft und Politik. Ohne eine Hierarchie zwischen diesen Themenbereichen zu postulieren, wurden Wandlungen kollektiver Identitäten und unterschiedliche Strategien der Durchsetzung gruppenspezifischer Interessen im Ostmitteleuropa des 20. Jahrhundert fokussiert.

Der geographische Schwerpunkt der Artikel liegt dabei auf den Beziehungen zwischen Polen und Deutschland: Fast die Hälfte der Beiträge beschäftigt sich mit der deutsch-polnischen Grenzregion. Die lebensweltliche Dimension steht dabei im Vordergrund, vor allem unterschiedliche Wahrnehmungen der Akteure, Wirkungen sozialer Heterogenität, Barrieren, alltägliche Konflikte usw. José M. Faraldo schildert am Beispiel von R. Franciszek die mögliche Dynamik der gegenseitigen Ausschließung von zwei konkurrierenden Gemeinschaften. Anna Tutaj und Jerzy Tutaj erläutern die Schwierigkeiten und Barrieren bei der Integration polnischer Neusiedler in Niederschlesien nach 1945. Beata Halicka zeigt anhand einer Analyse der Bodenreform im Lebuser Land (Zemia Lubuska) 1945–1947 die Erwartungen der Neuansiedler bezüglich der Eigentumsverhältnisse. Herle Forbrich rekonstruiert die Umnutzung der Herrenhäuser in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in Polen nach 1945. An zwei deutsch-polnischen Doppelstädten werden weiterhin die Identitätsverschiebungen gezeigt: Elzbieta Opilovska rekonstruiert das kollektive Gedächtnis in Görlitz/Zgorzelec und Zbigniew Kurcz unterschiedliche Erfahrungen in Guben/Gubin.

Alle erwähnten Beiträge betrachten die Grenz­region nicht primär als ein bloß von oben determiniertes Gebilde, sondern als einen lebensweltlichen Interaktionsraum, in dem unterschiedliche Interessen, Wahrnehmungen und Deu­tungen kommuniziert und verhandelt und jeweils in spezifischer Weise angeeignet wurden.

In eine ähnliche Richtung gehen weitere Beiträge, deren gemeinsamen Nenner die konfliktreichen Verhandlungen der Identitäten und Interessenvertretungen in Ostmitteleuropa bilden. Die gruppenspezifische Artikulation von Interessen und die Aneignung ideologischer Muster werden am aufschlussreichsten in den drei letzten Aufsätzen des Bandes dargestellt. Torsten Lorenz konzentriert sich in seinem Beitrag auf die Rolle des Genossenschaftswesens bei der Nationsbildung: Besonders im ostmitteleuropäischen Raum verkörperten die Genossenschaften nicht bloß eine wirtschaftliche Strategie, sondern sie wurden zum wichtigen Instrument, um nationale Interessen auszudrücken und zu bewahren. Uwe Müller zeigt in seinem vergleichend angelegten Beitrag über die Landreformen und Wirtschaftsnationalismen in Ostmitteleuropa nach 1918, dass die Landreformen trotz einer universalistischen Begründung – Versorgung eines möglichst großen Teils der Landbevölkerung mit einer selbständigen Wirtschaft (S. 173) – vorwiegend der „Stärkung des nationalen Besitzstandes“ dienten (S. 187). Auch Eduard Kubů entwickelt das wirtschaftsnationalistische Konzept: Er betrachtet die sehr aktive Rolle der Dresdner Bank bei der „Arisierung“ des Westböhmischen Bergbau-Aktien-Vereins im Jahr 1940 und zeigt die enge Verflechtung der wirtschaftlichen und ideologischen Positionierungen, deren Dynamik in ihrer Wechselwirkung zu erklären ist.

Der Band gibt auch aktualisierende Denkanstöße: Neben der Analyse gegenseitiger Bilder (vor allem Feindbilder) von Deutschland und Polen von Katarzyna Stoklosa ist die Untersuchung von Dagmara Jajeśniak-Quast hervorzuheben, die explizit die Ressentiments gegenüber dem national „fremden“ Kapital in Polen während der Zwischenkriegszeit und heute neben­einanderstellt. Trotz wichtiger Unterschiede unterstreicht sie starke Kontinuitäten, vor allem in der rhetorischen Figur der „Fremdbestimmung“. Eine breitere europäische Perspektive wurde im Band durch die Beiträge von Josef Langer und Andera Komlosy eröffnet: Josef Langer widmet sich der gegenwärtigen Situation in der Europäischen Union und entwirft unterschiedliche Szenarien für ihre weitere Entwick­lung. Andrea Komlosy wendet sich einer wichtigen Bedingung des modernen Europa zu, indem sie für die Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts die Reaktionen des zentraleuropäischen Baum­wollgewerbes auf die englische Industrialisierung untersucht. Rita Aldenhoff-Hübinger widmet sich gegenwärtigen Ansätzen und Strömungen in der Agrargeschichtsschreibung, An­ge­la Haare untersucht den Agrarismus und die ideologischen Konturen des Antikapitalismus in Rumänien im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Die Gesamtanlage des Bandes ist schlüssig, die meisten Beiträge argumentieren stringent aus den Quellen; trotzdem hätte manchmal eine präzisere argumentative Arbeit dem Band gutgetan. Das zeigt sich an den Stellen, an denen statt Analysen auf Quellenbasis Vermutungen ins Feld geführt werden – etwa im Beitrag von José M. Faraldo: Hier versetzt sich der Autor in den historischen Akteur hinein und beschreibt aus dieser Sicht die Nation als ein „warmes Nest“ oder umgekehrt als „eine unangenehme und gewalttätige Großmutter“. Oder er erklärt iden­titätsstiftende Prozesse mit dem „Gefühl der Überlegenheit“ und vergleicht dieses Phänomen allzu schnell mit dem politischen Islamismus. Am Ende führt er sogar eine „tiefe nationalistische Tradition der mitteleuropäischen Nationen“ als Erklärungsfaktor ein (S. 24–25). Hier scheinen Zweifel berechtigt, ob die Ausarbeitung den intellektuellen Anforderungen des Faches und seinem Anspruch auf methodische Selbstreflexion genügt.

Trotz dieser Stellen bietet der Band nicht nur eine Sammlung lesenswerter Beiträge, sondern er enthält auch die wichtige Botschaft, dass die Geschichte Ostmitteleuropas mehr ist als eine der zufällig definierten geographischen Analyseeinheiten – dass sich hier spezifische Erklärungspotentiale eröffnen, insbesondere für Untersuchungen der Nationsbildung und der Eskalation sozialer Konflikte.

Michal Pullmann, Prag

Zitierweise: Michal Pullmann über: Dagmara Jajeśniak-Quast [u.a.] (Hrsg.) Soziale Konflikte und nationale Grenzen in Ostmitteleuropa. Festschrift für Helga Schultz zum 65. Geburtstag. Berliner Wissenschafts-Verlag Berlin 2006, ISBN 3-8305-1209-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 460-462: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Pullmann_Jajesniak_Quast_Soziale_Konflikte.html (Datum des Seitenbesuchs)