Ulf Brunnbauer „Die sozialistische Lebensweise“. Ideologie, Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien (1944–1989). Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar 2007. 768 S., 21 Abb., 64 Tab. u. Graph. = Zur Kunde Südosteuropas, II/35.
Das sozialistische Bulgarien war vergleichsweise unscheinbar. Anders als in Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei gab es hier keinen gewaltsamen Konflikt, der die Bevölkerung dauerhaft vom sozialistischen Regime entfremdet hätte, und anders als die ostmitteleuropäischen Bruderparteien agierte die Bulgarische Kommunistische Partei nicht unter dem Eindruck beständig drohenden Zerfalls. Gerade deshalb, so die Ausgangsüberlegung der vorliegenden Arbeit, eignet sich Bulgarien, um allgemein gültige Grundstrukturen sozialistischer Gesellschaftspolitik herauszuarbeiten. Allenfalls die gewaltsame Assimilierung der türkischen Minderheit am Ende der Achtzigerjahre könnte als eine bulgarische Besonderheit gelten. Es gehört zu den zentralen Befunden der vorliegenden Arbeit, auch dieses vermeintliche Spezifikum im Kontext einer sozialistischen Homogenisierungspolitik zu sehen, die wie andernorts auch patriotisch grundiert war und alle Bereiche der bulgarischen Gesellschaft umfasste.
An deren Anfang stand die Erwartung, die sozialistische Transformation werde von sich aus den neuen Menschen hervorbringen. Sozialistische Leitbilder wie Opferbereitschaft, Disziplin und Wachsamkeit waren an konkrete Aufbauprojekte gebunden und wurden über die Jugendbrigaden als „Schule des Heldentums“ (S. 111) einer ganzen Generation junger Bulgaren vermittelt. Symbolisch überfrachtete Großprojekte wie Dimitrovgrad und später das Metallurgiekombinat Kremikovci lassen sich gleichsam als Mikrokosmen der entstehenden sozialistischen Gesellschaft verstehen, an denen die angestrebte Transformation samt ihren zwiespältigen Sozialisationseffekten abzulesen sind. Vor diesem Hintergrund musste die Partei gegen Ende der Fünfzigerjahre geradezu zwangsläufig zu der Einsicht kommen, dass es intensiverer staatlicher Maßnahmen bedürfe, um den sozialistischen Menschen hervorzubringen. Soziale Probleme und deviante Verhaltensweisen, wie sie die rasche Urbanisierung unausweichlich hervorbrachte, wurden fortan als „Überbleibsel“ von Feudalismus und Kapitalismus angeprangert. Erst jetzt wurde das Leitbild der „sozialistischen Lebensweise“ im Detail ausformuliert, mit dem das Regime den wachsenden Konsum gesellschaftlich zu steuern versuchte. Es vereinte Ideale von Bildung und kultivierter Freizeitgestaltung, Geschmack und Bescheidenheit, die sich in ihrer patriotischen Grundierung deutlich von denen im kapitalistischen Westen absetzen sollten und doch nur das Wertesystem einer urbanen Intelligenzia verallgemeinerten. Zum wichtigsten Instrument sozialer Kontrolle in einem propagandistisch ideologisierten Alltag wurde die Vaterländische Front mit ihren Kampagnen gegen religiöse Bräuche, gegen Alkoholmissbrauch und für sozialistische Gesetzlichkeit und Verschönerung des öffentlichen Raums. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ließ sich aber weder durch gesteigerte Propaganda noch durch fein austarierte Mechanismen der Repression überbrücken.
Der Rückzug des Staates aus der stürmischen Phase stalinistischer Mobilisierung wird so als Prozess versuchter Verstetigung und Verdichtung diskursiver Disziplinierung und administrativer Kontrolle sichtbar. Damit knüpft Brunnbauer an eine Forschungsrichtung an, die Entstalinisierung nicht als Liberalisierung oder gar als Rückzug des Staates aus der Gesellschaft begreift. Indem er das Privatleben als zentralen Ort von Aushandlungsprozessen zwischen Regime und Bevölkerung erschließt, verwirft er zugleich die zusehends kritisierte Vorstellung, in sozialistischen Gesellschaften sei das Privatleben ein Rückzugsraum gegenüber dem übermächtigen Staat gewesen.
Besonderes Augenmerk richtet Brunnbauer auf die Familienpolitik. Wo sich das Regime um die hohen Scheidungsraten, um Ehebruch oder um die schwindende Geburtenrate sorgte, konnte es sich darauf stützen, dass weite Teile der Bevölkerung die dahinterstehenden Wertvorstellungen durchaus teilten. Ähnliches gilt für die grundlegenden Leitbilder von Gerechtigkeit und sozialer Homogenität, Kultiviertheit und Fortschritt im Zeichen des Patriotismus. Dennoch scheiterte das Regime mit seinen gesellschaftlichen Vorstellungen auf der ganzen Linie. Bleibend hohe Scheidungsraten und Abtreibungen in einem Staat, der nicht einmal der Hälfte der Familien einen Wohnraum gemäß den selbst aufgestellten Normen bereitstellen konnte, zeigen die Widersprüche eines Regimes, das sich als treibende Kraft gesellschaftlicher Modernisierung verstand und folgerichtig als Urheber aller damit verbundenen Zumutungen begriffen wurde. Da half es wenig, in der Kindererziehung kleinere Zugeständnisse zu machen und die Großmütter zu beteiligen, wo staatliche Krippen mehrheitlich abgelehnt wurden. Von dieser Warte aus wird verständlich, weshalb weite Teile der bulgarischen Gesellschaft den Übergang in Demokratie und Marktwirtschaft als Verlust an Autonomie begriffen. Denn nunmehr fehlte ein allzuständiges Gegenüber, dem kleinere oder größere Zugeständnisse abgerungen werden konnten. Ob man dem Menschenbild der industriellen Moderne genügt, liegt seither in der Verantwortung jedes Einzelnen.
Soweit die zentralen Befunde des vorliegenden Bandes. Sie helfen nicht nur, rückblickende Verklärungen des Sozialismus zu verstehen, wie sie sich auch außerhalb Bulgariens beobachten lassen, sondern sie werfen auch grundlegende Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft in Ländern auf, die extrem raschen wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen ausgesetzt sind. Aus dieser Warte stellt Brunnbauer die Frage nach dem grundlegenden Charakter des Sozialismus auf fruchtbare und erhellende Weise neu. Was dabei allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, und wo eventuell doch bulgarische Besonderheiten genauer zu konturieren wären, kann getrost als cura posterior betrachtet werden.
Joachim von Puttkamer, Jena
Zitierweise: Joachim von Puttkamer über: Ulf Brunnbauer: „Die sozialistische Lebensweise“. Ideologie, Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien (1944–1989). Boehlau Verlag Wien, Koeln, Weimar 2007. = Zur Kunde Suedosteuropas, II/35. ISBN: 978-3-205-77577-5, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 625-626: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Puttkamer_Brunnbauer_Sozialistische_Lebensweise.html (Datum des Seitenbesuchs)