Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 349-350

Verfasst von: Jakub Rákosník

 

Richard Buchner: Terror und Ideologie. Zur Eskalation der Gewalt im Leninismus und Stalinismus (1905 bis 1937/1941). Ausblick bis 2011. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2011. 545 S., Tab. ISBN: 978-3-86583-554-3.

Richard Buchner hat ein interessantes und vielschichtiges Buch über die Verbrechen des Stalinismus verfasst, das sicher von einer breiten Leserschaft positiv aufgenommen wird. Über die Ausrichtung des Buches bemerkt er in der Einleitung:Weltgeschichte wird hier verstanden als eine Geschichte von untenGeschichte der Opfer(S. 23). Deshalb bleiben diejenigen völlig unberücksichtigt, die im Stalinschen System funktionieren konnten und oftmals gerade seinetwegen Bildung erlangten und auf der Karriereleiter nach oben stiegen. Der Autor hätte sicher zu Recht angemerkt, dass man dieselben Ziele auch mit geringeren menschlichen Verlusten hätte erreichen könnendaran besteht kein Zweifel. Das Desinteresse an diesen Bevölkerungsgruppen bedeutet jedoch auch eine Einseitigkeit der Darstellung. Und gerade deshalb kann der Autor auf Seite 159 feststellen, im Vergleich zum NS-System (in dessen Fall man darüber zumindest diskutieren könne) seien der Leninismus und der Stalinismus niemals Zustimmungsdiktaturen gewesen. Sein Hauptargument ist die Darlegung der Art und Weise, wie die bolschewistische Diktatur in den Jahren 19171920 geschaffen wurde, wo er richtig hervorhebt, dass die Bolschewiken nicht in der Lage waren, im Rahmen regulärer demokratischer Prozesse eine Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Große Aufmerksamkeit widmet er der wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe, zu der es infolge des Kriegskommunismus kam, während er die Neue Ökonomische Politik der Jahre 19211927 als mehr oder minder erfolgreiche, ursprünglich menschewistische Wirtschaftsstrategie versteht, ohne deren Übernahme die bolschewistische Diktatur bereits im Jahre 1921 zerfallen wäre. Vollkommen unbeachtet bleiben die Folgen dieser Politikkonkret die Entstehung einer neuen Bevölkerungsstruktur, an deren Spitze eine soziale Gruppe stand, die von dieser begrenzten Marktwirtschaft zu profitieren wusste. Gerade die Abneigung der niederen Schichten gegenüber den sog.NEP-Leutenhalf bei der Legitimierung der neuen Stalinschen Wirtschaftspolitik nach 1927. Buchners pauschale Ablehnung der Möglichkeit, die Formierung eines Konsens in der Sowjetgesellschaft erforschen, und die ausschließliche Betonung der Terror­opfer sind aus diesem Grunde irreführend und lassen zu einer einseitigen Betrachtung gelangen. Bezeichnenderweise bleibt auch die Literatur, die sich mit ebendiesem gesellschaftlichen Konsens in den Gesellschaften sowjetischen Typs befasst, außerhalb des Interesses des Verfassers (z. B. Sheila Fitzpatrick bzw. Jochen Hellbeck). Der Autor hält konsequent an der Totalitarismustheorie fest, die er am Ende des Buches versucht typologisch zu vertiefen: Er erweitert die klassische Totalitarismus-Typologie von Carl Joachim Friedrich mit fünf Punkten auf 12 Punkte (S. 445 ff.). Die Erklärung der Eskalation der Gewalt im Leninismus und Stalinismus ergibt sich dann aus der totalitaristischen Konzeptualisierung. Diese Eskalation wurde durch die nicht anzuzweifelnde messianistische Ideologie möglich, die das gesellschaftliche System schuf, indem es keine Machtteilung und auch keinen Respekt vor den Menschenrechten gab. Buchner versteht den Stalinismus zwar nicht als notwendige historische Resultante (dazu waren Stalins einzigartige psychische Faktoren und seine Erfahrung alsMafiabossaus dem Kaukasus zu besonders), doch schaffe ein solches gesellschaftliches System die Bedingungen dafür, dass Individuen wie Stalin, Mao oder Pol Pot an die Macht gelangen könnten. Gerade darin lassen sich (aus der Sicht eines Historikers) die Stärken des Buches sehender Verfasser schwankt in seiner Ausführung in interessanter Weise zwischen strukturellen Faktoren, die sich aus dem totalitaristischen System ergeben, und einzigartigen Faktoren, die aus dem Willen der Individuen resultieren, die an der Spitze seiner Machthierarchie stehen.

Der Autor wundert sich mit Recht über die heutigen Meinungsumfragen, nach denen sich nur ein Viertel der russischen Bevölkerung deutlich negativ über Stalins Persönlichkeit äußert, während ihn der Rest mit partiellen Vorbehalten oder ganz ohne Vorbehalte positiv betrachtet (S. 25). Er sieht das als Beweis für das tief verwurzelte antidemokratische Bewusstsein in der gegenwärtigen russischen Gesellschaft und verurteilt solche Ansichten von moralischen Positionen aus. (Dies ist ein Schlag in das Gesicht der Opfer des Stalinismus.“ – S. 26) Wenn er sich später darüber wundert, warum im derzeitigen Deutschland die Terroristen der RAF als Kämpfer für die Menschheits-Beglückung stärker verehrt werden als der Arbeiterführer Ferdinand Lassalle, so ergibt sich daraus eine moralische Verurteilung der heutigen Medien, die nur Sensationen hinterherjagen. Gerade an solchen Stellen des Buches kann sich der Leser der Grenzen einer Beschreibung des Sowjetsystems und der durch den Marxismus inspirierten Bewegungen ausschließlich über deren Verbrechen und durch die Optik der Opfer, wie es Richard Buchner (S. 266) versucht hat, gewahr werden.

Oft schrieb er in seinem BuchNie wieder!. Wenn die Historiographie überhaupt dazu beitragen kann, dass sich totalitaristische Diktaturen nicht mehr wiederholen, dann reicht es offensichtlich nicht aus, nur Belege zu den Verbrechen der Systeme der Vergangenheit zusammenzutragen und diese moralisch zu verurteilen, wie dies anschließend an Solschenizyn, Courtois, Jakowlew und andere auch Buchner tut. Man muss auch diejenigen betrachten, die nicht zu Opfern wurden oder die sogar von der entsprechenden Gesellschaftsordnung zu profitieren wussten. Und außerdem muss auch der Frage Aufmerksamkeit gewidmet werden, wie ein kollektives Gedächtnis entsteht, ohne nur die Medien oder die Verblendung der Menschen zu verurteilen. Nur schwer zu erklären sind die tschechische Nostalgie nach den Zeiten der politischenNormalisierung“ in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts oder die ostdeutscheOstalgie“, wenn man dies nur mit einem tief verwurzelten antidemokratischen Bewusstsein oder rosaroten Erinnerungen an die verlorene Jugend tut (S. 269). Die so gestellten Fragen gehen jedoch über den Rahmen des Buches von Buchner hinaus.

Jakub Rákosník, Prag

Zitierweise: Jakub Rákosník über: Richard Buchner: Terror und Ideologie. Zur Eskalation der Gewalt im Leninismus und Stalinismus (1905 bis 1937/1941). Ausblick bis 2011. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2011. 545 S., Tab. ISBN: 978-3-86583-554-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Rakosnik_Buchner_Terror_und_Ideologie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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