Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 59 (2011) H.4
Verfasst von: Jakub Rákosník
Christa Hübner, Peter Hübner: Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik in der DDR und Polen 1968‒1976. Mit einem Beitrag von Christoph Boyer zur Tschechoslowakei. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2008. 520 S. = Zeithistorische Studien, 45. ISBN: 978-3-412-20203-3.
Das vorliegende Buch, das thematisch an die im Rahmen der „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“ herausgegebenen Arbeiten anknüpft, wurde als Band 45 der Reihe „Zeithistorische Studien“ veröffentlicht. Die bisher in den erwähnten Reihen publizierten Analysen der deutschen Sozialpolitik werden in diesem Buch um eine vergleichende Perspektive angereichert. Den Autoren geht es allerdings primär nicht um eine Analyse der Sozialpolitik, sondern um eine Untersuchung der sozialistischen Diktatur. Die Sozialpolitik wird hier einmal als Mittel der Stabilisierung des Machtsystems und zum anderen als Komplex von Instrumenten betrachtet, die das Wirtschaftssystem beeinflussten (und selbst von ihm beeinflusst wurden).
In der Geschichtswissenschaft lassen sich im Grunde drei Ansätze bei der Untersuchung der Entwicklung der Sozialpolitik unterscheiden. Die juristisch-soziologische Methode konzentriert sich auf die Analyse der Rechtsvorschriften und ihrer Auswirkungen, zumeist auf der Basis quantitativer statistischer Angaben. Die kulturalistische Perspektive richtet sich auf die alltägliche Praxis, den mentalen Horizont der Akteure und ihre Lebensstrategie. Die Politikgeschichte konzentriert sich auf die Herausbildung eines politischen Willens, einer politischen Linie und auf Verhandlungsweisen. Die Autoren dieses Buches akzentuieren vor allem die dritte der genannten Herangehensweisen. Darin besteht sowohl die Stärke als auch die Schwäche der gesamten Publikation. Man kann sagen, dass dieser dritte Aspekt auf hervorragende Weise herausgearbeitet wird. In großem Umfang handelt es sich hier um Schreiben der Geschichte von oben. Ein Einblick in die Reaktionen und Strategien der Objekte der staatlichen Fürsorge, also der Bevölkerung, ist nur im Zusammenhang mit den Analysen der polnischen Volksunruhen am Ende der Gomułka-Regierung möglich. Im Buch vermisse ich eine detailliertere Aufarbeitung des Lebensstandards, der sozialen Sicherungssysteme und weiterer damit zusammenhängender Maßnahmen zur Lösung der „sozialen Frage“. Informationen dazu finden sich in der Publikation an verschiedenen Stellen, und sie werden in der Regel im Zusammenhang mit den Plänen der politischen Führung für Verbesserungen in der Zukunft angeführt. Dies führt anschließend dazu, dass im Text nicht ausreichend Platz zur Interpretation solcher in der Regel quantitativer Angaben bleibt und dem Leser somit der notwendige Kontext für deren Verständnis fehlt.
Etwas unorganisch wirkt auch die Einbindung der Studie von Boyer über die Tschechoslowakei in die Gesamtanlage des Buches. Dieser Beitrag ist im Grunde nicht mit dem übrigen Text verbunden und überschreitet u.a. bei Weitem den im Titel genannten chronologischen Rahmen, was in Anbetracht des begrenzten Textumfangs der Abhandlung dazu führt, dass diese sich auf einem recht allgemeinen Niveau bewegen muss.
Den Autoren des Buches ist es auf der Basis einer soliden Kenntnis der primären Quellen gelungen, einen der Schlüsselfaktoren des Funktionierens der kommunistischen Systeme in Mitteleuropa herauszuarbeiten, den Konrad Jarausch einst kurz mit „Fürsorgediktatur“ umschrieb (Konrad Jarausch Dictatorship as experience: Towards a Socio-Cultural History of the GDR. New York 1999, S. 60–62), also ein System, das seine Stabilität auf Repression in Kombination mit dem Bemühen um Gewährleistung grundlegender sozialer Sicherheiten stützte. Die Schlüsselbotschaft des Buches ist auf S. 459–460 zusammengefasst. Mit Hilfe eines größeren Nachdrucks auf der Sozialpolitik, die ein ausreichend großes Potenzial für die Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen Konsenses schuf, erreichte das ostdeutsche und in einem hohen Maße auch das polnische System Mitte der siebziger Jahre seine Stabilisierung. Die Sozialpolitik wies deutliche Nivellierungstendenzen auf, was die demotivierenden Effekte des Wirtschaftssystems vertiefte. Der Ausbau der sozialen Sicherheiten steigerte die Gefahr einer wirtschaftlichen Stagnation, denn durch sie baute sich, wenn man von den nicht minder wichtigen subjektiven Faktoren absieht, eine Barriere des Mangels an Ressourcen auf, die eine effektive Reaktion der Wirtschaftspolitik auf die sogenannte „dritte industrielle Revolution‟, die in der Sprache der damaligen Zeit allgemein als „wissenschaftlich-technische Revolution“ bezeichnet wurde, verhinderte. Damit entstand ein Teufelskreis, der für das letzte Jahrzehnt der sozialistischen Systeme in Mitteleuropa typisch war.
Trotz der oben angeführten kritischen Anmerkung zu dem vorliegenden Buch muss vor allem die breite Quellenbasis der Beiträge erwähnt werden. Wenngleich die Ergebnisse der Untersuchung keine Revolution in den bisherigen Interpretationen darstellen, bieten sie doch eine sehr solide, durch Quellen und Argumente unterlegte Basis zur Bekräftigung einiger Thesen, die in der bisherigen Literatur bereits formuliert wurden, ohne von einer gründlichen fachlichen Analyse und Untersuchung untermauert zu sein.
Zitierweise: Jakub Rákosník über: Christa Hübner, Peter Hübner Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik in der DDR und Polen 1968-1976. Mit einem Beitrag von Christoph Boyer zur Tschechoslowakei. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. = Zeithistorische Studien, 45. ISBN: 978-3-412-20203-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Rakosnik_Huebner_Sozialismus_als_soziale_Frage.html (Datum des Seitenbesuchs)
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