Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Stefan Rohdewald

 

Wilnianie. Żywoty siedemnastowieczne. [Die Wilnaer. Lebensläufe des 17. Jh.] Opracował, wstępem i komentarzami opatrzył David Frick. [Bearbeitet sowie mit einer Einleitung und Kommentaren versehen von David Frick.] Warszawa: Wydawn. Przegląd Wschodni, 2008. 663 S. = Bibliotheca Europae Orientalis, 32. Fontes, 2. ISBN: 978-83-923279-2-9.

David Fricks eindrücklicher Band ist im Rahmen eines noch nicht abgeschlossenen Projektes zur Untersuchung der Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Bekenntnisse und Kulturen in Wilna im 17. Jahrhundert entstanden. Die fünf in Wilna anerkannten christlichen Konfessionen sowie Juden und Muslime lebten in der Stadt in einer sehr konfliktträchtigen Situation, lässt man seine Wahrnehmung durch konfessionelle polemische Quellen lenken. Wie gestaltete sich aber jenseits von sporadischen Gewaltausbrüchen die im Vergleich außergewöhnliche Normalität, wie sahen die modi vivendi in ihren alltäglichen sozialen und kulturellen Praktiken aus? Die reichen Akten der Stadt geben eine hervorragende und seltene Gelegenheit, Einblick in eine der vielfältigsten Hauptstädte Europas zu gewähren. Frick präsentiert auf der Grundlage der Haushaltserhebungen, der Revisionen der Stadt von 1636 und 1639 alle Haushaltsbeschreibungen nach Straßen gegliedert. Da die Revisionen keine Hinweise etwa auf die Konfession der Bewohner geben, hat Frick mithilfe aller Gerichts- und Kirchenakten der Stadt zum 17. Jahrhundert die Angaben zu den Besitzern und Bewohnern mit zahlreichen Informationen ergänzt. Frick bezeichnet das damit entstandene Buch zu Recht als „Hybrid“ (S. XXXI), ist es doch teilweise ein Stadtführer, der zu einem Spaziergang einlädt, überwiegend aber eine Edition von Quellen ganz verschiedener Gattung: Testamente, Inventare und Akten über alle Bevölkerungsgruppen in topographischer Anordnung, nicht chronologisch. Die einzelnen Hausbeschreibungen sind ergänzt durch Kommentare, wie auch die Straßenkapitel mit kurzen Einführungen versehen sind. Nur die Einleitung und die kurzen Zusammenfassungen in Litauisch und Englisch am Ende des Buches nehmen aber konzeptuelle und übergreifende Einordnungen vor. So hebt Frick dort das Alter des „Multikulturalismus“ von Wilna hervor: Bereits vor der Christainisierung Litauens 1386 lebten in der Stadt Litauer, katholische Deutsche und orthodoxe Ruthenen. Das Zusammenleben der Konfessionen habe zu einem überaus dauerhaften System der Parität unter den Korporationen der Stadt geführt, in denen „Multikonfessionalismus die Regel“ gewesen sei. Die Aufarbeitung der kulturellen Praktiken, die das System trugen, sei die Aufgabe eines erst noch im Entstehen begriffenen Buches: „Die Wilnaer“ liefert hierzu nur erste Ansätze für Antworten in den begleitenden Kommmentaren. Das Ziel des Buches ist es, das Material zum Leben in Nachbarschaften und Netzwerken aufzubereiten, um zu zeigen, welche Beziehungen durch Heirat, Rechtsbeistand, Taufpaten und Zeugen, Zünfte etc. entstanden und inwieweit diese „konfessionell und kulturell eingeschränkt“ waren bzw. welche Konstellationen von Verbindungen über konfessionelle Grenzen hinweg („cross-confessional“) unter welchen Umständen wahrscheinlicher als andere waren. Es entsteht ein überaus vielfältiger Zugang zu einer ethnokonfessionell überaus heterogenen Stadt zu einer Zeit, während der in anderen Städten Europas solche Heterogenität mit Gewalt und Vertreibung vereinheitlicht wurde (S. 610–611). Die frühneuzeitliche Stadt erfährt in dem Buch ihre textuelle und partielle Rekonstruktion als überaus heterogener, diskursiver und relationaler sozialer Raum.

„Die Wilnaer“ sind als Werkstattbericht einer größeren wissenschaftlichen Arbeit zu verstehen. Mehrere vorab publizierte Aufsätze des Autors geben bereits Einblick in diese Studie, die mit großer Spannung erwartet werden darf. Dem Buch sind ein Stadtplan beigefügt sowie jeweils detaillierte Skizzen der Straßennachbarschaften, außerdem genealogische Tafeln und zahlreiche historische Abbildungen von Häusern und Straßenzügen. Überdies ist ein Personenregister erstellt worden. Sehr wünschenswert wären ein Sach- und schließlich auch ein Ortsregister gewesen, um inhaltliche und räumliche Bezüge systematisch abfragen zu können. Um die zu vielfältigen Analysen einladenden Texte einem breiteren Kreis bzw. Studenten ohne Polnischkenntnisse zugänglich zu machen, drängt sich eine Übersetzung des Bandes ins Englische oder Deutsche auf. Der Band bezeugt den enormen Aufwand, den mikrohistorische Forschung mit sich bringt. Umso dankenswerter ist die Bereitstellung der Quellen in dieser wegweisenden Publikation.

Stefan Rohdewald, Passau

Zitierweise: Stefan Rohdewald über: Wilnianie. Żywoty siedemnastowieczne. Opracował, wstępem i komentarzami opatrzył David Frick. Wydawn. Przegląd Wschodni Warszawa 2008.= Bibliotheca Europae Orientalis, XXXII. Fontes, 2. ISBN: 978-83-923279-2-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Rohdewald_Wilnianie_Zywoty_siedemnastowieczne.html (Datum des Seitenbesuchs)

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