Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Klaus Roth

 

Ulf Brunnbauer, Stefan Troebst (Hrsg.) Zwischen Amnesie und Nostalgie. Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa. Weimar, Köln, Wien: Böhlau, 2007. VI, 308 S., Abb. = Visuelle Geschichtskultur, 2. ISBN: 978-3-412-13106-7.

Das Bemerkenswerteste am 10. November 2009, dem zwanzigsten Jahrestag des Sturzes des bulgarischen Staatspräsidenten und Parteichefs Todor Živkov und damit des Endes von 45 Jahren kommunistischer Alleinherrschaft war, dass absolut nichts Bemerkenswertes geschah: Kein staatlicher Akt, keine Feier einer nennenswerten Organisation erinnerte öffentlich an die Bedeutung dieses Tages. Dieses Nicht-Erinnern an den Kommunismus, an seine totalitären Auswüchse und die permanente Mangelwirtschaft kennzeichnet nicht nur Bulgarien, sondern es scheint ein Charak­teristikum Südosteuropas zu sein, denn auch Griechenland mit seinem Scheitern der Kommunisten im Bürgerkrieg tut sich mit der Aufarbeitung des Kommunismus überaus schwer. Der vorliegende Band versucht, in seinen 16 Beiträgen zu allen südost­europäischen Ländern den Ursachen für dieses verweigerte Erinnern nachzugehen. Angesichts der ansonsten starken Tradition des langen Erinnerns in Südosteuropa und der negativen gesellschaftlichen und politischen Folgen dieses Nicht-Erinnern-Wollens besteht hier in der Tat Klärungsbedarf. Der Band füllt damit eine Lücke, und er tut dies durch die Fülle der Perspektiven und der vertretenen Fachdisziplinen in lobenswerter Form.

Länderübergreifend sind die Beiträge der Herausgeber Stefan Troebst („‚Budapest‘ oder ‚Batak‘? Varietäten südosteuropäischer Erinnerungskulturen“) und Ulf Brunnbauer („Ein neuer weißer Fleck? Der Realsozialismus in der aktuellen Geschichtsschreibung in Südost­euro­pa“). Troebst weist darauf hin, dass trotz der zentralistischen Ge­schichtspolitik der Kommunisten das östliche Europa heute gekennzeichnet ist durch eine Vielfalt von Erinnerungskulturen, die er aber doch – überzeugend – vier Typen zuordnet, wobei eine totale Spaltung der Gesellschaft (in Ungarn) und eine fast einvernehmliche Amnesie (in Bulgarien) die Pole bilden. Die Verweigerung der Erinnerung an den Sozialismus ist aber, wie Brunnbauer am Beispiel Bulgariens, Rumäniens und der Nachfolgestaaten Jugoslawiens nachweist, nicht nur in Gesellschaft und Politik, sondern auch in der Historiographie zu beobachten, die sich dadurch der Chance begibt, den öffentlichen Diskurs über den Sozialismus zu beeinflussen, und statt dessen zu Mythenbildungen, Apologien und Nos­talgie beiträgt.

Bei den übrigen Beiträgen handelt es sich um – weitgehend aufschlussreiche – Fallstudien zu den einzelnen Ländern, wobei das Fehlen Albaniens bedauerlich ist. Nikolai Vukov („Refigured memories, unchanged representations: post-socialist monumental discourse in Bulgaria“) analysiert am Beispiel der Denkmäler aus der Zeit des Sozialismus in differenzierter, z. T. empirisch gestützter Weise die sehr verschiedenen Formen des Umgangs, wobei er Troebsts eindeutige typologische Zuordnung Bul­gariens ein wenig in Frage stellt. Differenzierend sind auch die Einsichten Daniela Kole­vas („The memory of socialist public holidays: between colonization and autonomy“), die bei ihren empirischen Recherchen recht selektive und meist positive Erinnerungen an die sozialistischen Feiertage feststellte, ebenso aber auch eine häufige Umdefinition der Bedeutungen der Rituale. Für das mit seinem Ceauşescu-Regime besonders stark betroffene Rumänien gilt weithin die gleiche Politik des Schweigens, wie Dietmar Müller („Strategien des öffentlichen Erinnerns in Rumänien nach 1989: Postkommunisten und postkommunistische Antikommunisten“) anhand von drei spannenden Fallstudien zeigt, die die Zerrissenheit der rumänischen Gesellschaft im Erinnern an den Sozialismus und die Zeit davor sowie die Schwäche der Dissidenz offen legen. Oltea Joja („Den Kommunismus erinnern. Bilder und Vorstellungen in der Gegenwart“) konstatiert neben der Verharmlosung und Relativierung des nationalkommunistischen Regimes zudem eine Persistenz sozialistisch geprägter Wahrnehmungen und Einstellungen in der heutigen Zeit.

Der Vielfalt der Erinnerungen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens widmet sich Augusta Di­mou („The present’s past: the national history of socialism or the socialist period of the nation?“) anhand des kritischen Vergleichs von Geschichtslehrbüchern und stellt, wie zu erwarten, sehr gegensätzliche Geschichtsversionen fest. Predrag Marković („Der Sozialismus und seine sieben ‚S‘-Werte der Nostalgie“) sieht demgegenüber einen gemeinsamen Nenner im populären Gedächtnis an den (jugoslawischen) Sozialismus in der weitverbreiteten überhöhenden Erinnerung an die Solidarität, Si­cherheit, Stabilität, Soziale Inklusion, Soziabilität, Solidität und Selbstachtung jener Periode, eine Nostalgie, die in Familien auch an die später Geborenen tradiert wird. Ein offenes Fenster zum Westen hatten die damaligen Jugoslawen nicht nur durch die Gastarbeiter, sondern auch, wie Breda Luthar („For the love of the goods. The politics of consumption in socialism“) anschaulich untersucht, durch die Möglichkeit des Einkaufens in Italien. Stephanie Schwandner-Sie­vers und Isabel Ströhle („Der Nachhall des Sozialismus in der albanischen Erinnerungskultur im Nachkriegskosovo“) zeichnen kenntnisreich die verschlungenen Wege der Definition von „nationalen Märtyrern“ im Kosovo während der Partisanenzeit, in der sozialistischen Periode und im letzten Jahrzehnt nach, wobei der jetzige offizielle Märtyrerkult primär der Legitimation der Macht dient. Kaum ein Land ist jedoch über seine Erinnerungen so tief gespalten wie Ungarn, wie in den Fallstudien von Péter Ápor („Secret agents: historio­graphy and the context of a public scandal in contemporary Hungary“) und Éva Kovács („Das Lamm, das Kind und der Wal. Fatal errors des sozialistischen Gedächtnisses“) deutlich wird; Kovács diskutiert dabei die Problematik des sozialen Gedächtnisses, wobei sie die gewählten All­tagsgeschehnisse z. T. etwas eigenwillig deutet. Hagen Fischer („Was wäre wenn … Die ‚Bewältigung‘ der kommunistischen Niederlage im griechischen Bürgerkrieg nach Wiederherstellung der Demokratie (1974–2006)“) schließlich macht anhand seiner empirischen Untersuchungen klar, dass auch Griechenland mit dem Kommunismus ein erhebliches Problem hat, das die Gesellschaft Jahrzehnte gespalten und eine Gemengelage der Erinnerungen erzeugt hat.

Den Abschluss des Bandes bilden drei Beiträge von Zoran Terzić, Anne C. Kenneweg und Tanja Langenbach, die sich in eindrucksvoller Weise den literarischen und künstlerischen Verarbeitungen des Erinnerns an den Sozialismus widmen. Sie runden einen Band ab, der, abgesehen davon, dass ihm ein zweites Lektorat gut getan hätte, Betroffene und Nicht-Betroffene zu Wort kommen lässt und einen erhellenden Blick wirft auf die schwierigen Prozesse des Erinnerns und vor allem des Verdrängens der Jahrzehnte des Sozialismus und damit zum Verstehen mancher aktuellen Probleme beiträgt.

Klaus Roth, München

Zitierweise: Klaus Roth über: Ulf Brunnbauer, Stefan Troebst (Hrsg.) Zwischen Amnesie und Nostalgie. Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa. Böhlau Verlag Weimar, Köln, Wien 2007. = Visuelle Geschichtskultur, 2. ISBN: 978-3-412-13106-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Roth_Brunnbauer_Zwischen_Amnesie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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