Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Hartmut Rüß

 

Lev S. Klejn: Spor o varjagach. Istorija protivostojanija i argumenty storon [Der Warägerstreit. Geschichte des Disputs und Argumente der Parteien]. Sankt-Peterburg: Evrazija, 2009. 399 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-5-8071-0329-1.

Der Buchtitel geht auf ein 1960 entstandenes Manuskript des Autors zurück, das damals unter seinen Studenten und Seminarteilnehmern am Archäologischen Lehrstuhl der Historischen Fakultät der Leningrader Staatlichen Universität in Abschriften verbreitet war und ihnen als wissenschaftliche Argumentationshilfe diente, um den permanenten „Verfälschungen“, „Verdrehungen“ und „Manipulationen“ (S. 7) in der offiziellen Geschichtsschreibung beim Thema der Entstehung des russischen Staates und der damit zusammenhängenden Warägerfrage kritisch entgegenzuwirken. Der Text wurde Grundlage eines vom Verfasser veranstalteten Spezialkurses, aus dem heraus sich ein informelles „Slavisch-warägisches Seminar“ konstituierte, das, als ein „Herd der Opposition zur offiziellen sowjetischen Ideologie“ (S. 261), in der Folge unter wechselnder Leitung stand und eine ganze Reihe späterhin landesweit und international bekannter Archäolog(inn)en (S. V. Beleckij, V. A. Bulkin, I. V. Dubov, G. S. Lebedev, Ju. M. Lesman, V. A. Nazarenko, N. I. Platonova, E. A. Rjabinin, V. N. Sedych) hervorgebracht hat, deren Arbeiten zur normannischen Thematik im Anhang angeführt sind (S. 310–342). Das Manuskript von 1960 wird hier, neben anderen Materialien zum Thema, erstmals publiziert (S. 13–88). Lev Samojlovič Klejn begründet dies im Vorwort damit, dass seine Hoffnung auf ein Ende des „Warägerstreits“ nach dem Zerfall der Sowjetunion sich als vorschnell erwiesen habe und der Inhalt deshalb nach wie vor Aktualität besitze, da im postsowjetischen Russland im Zuge eines neuen „Ultra-Patriotismus“ als längst überholt geltende antinormannistische Positionen eine erstaunliche Renaissance erfahren würden – und zwar nicht nur bei dilettierenden „Popularisierern“ (mit Hinweis auf das 1999 erschienene Buch der Journalistin N. I. Vasil’evna Rus’ i varjagi). So reiche es in der Sicht V. V. Fomins, eines  führenden Vertreters dieser wiederbelebten Strömung, schon aus, anzuerkennen, dass die Waräger Skandinavier gewesen seien, um als „Nor­mannist und – unbedingt – Antipatriot“ abgestempelt zu werden. Der Direktor des landesweit bedeutendsten Instituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften, A. N. Sacharov, führte – als bekennender Antinormannist und mit „sowjetischer Phraseologie“ („der Normannismus, im allgemeinen genährt durch politische Impulse und Ambitionen von jenseits der Grenzen“, entstanden „in aggressiven und expansionistischen Kreisen“ des Westens usw., 2002) – den wissenschaftlichen Erfolg der Gegenseite darauf zurück, dass diese auf breite Zustimmung einflussreicher Partei-, Staats- und Wissenschafts­strukturen habe zählen können, wobei, „wie jedermann bekannt ist“, die „parteistaatlichen Strukturen“ zur Sowjetzeit den Antinormannismus protegierten, „wie sie ihn auch heute unterstützen“. „Einen anderen Sa­cha­rov“, der im übrigen der These anhänge, dass Rjurik und seine Leute keine Skandinavier gewesen sind, sondern „unsrige“, „Kaliningrader“, „südbaltische Slaven“ also, und „die Waräger Slaven-Wagrier“, würde man auf dem hohen Posten des Institutsdirektors auch nicht belassen haben. 1965 fand an der Historischen Fakultät in Leningrad eine Aufsehen erregende öffentliche Diskussion über die Normannenfrage zwischen L. S. Klejn und I. P. Šaskol’skij statt, dessen Buch „Die normannistische Theorie in der gegenwärtigen bourgeoisen Wissenschaft“ soeben erschienen war. In dem „Duell“ – dem dritten nach den öffentlichen Disputationen zwischen M. V. Lomonosov und Gerhard Friedrich Müller (1749/50) sowie zwischen N. I. Kostomarov und M. P. Pogodin (1860) – erachtete es Klejn als unbestreitbar, dass 1. die Waräger Normannen waren, dass sie 2. den Namen Rus’ mit nach Osteuropa brachten und dass sie 3. die Begründer der Kiever fürstlichen Dynastie gewesen sind. Das Konstrukt B. D. Grekovs von einer uralten autochthonen Entwicklung der slavischen Staatlichkeit lehnte er genauso ab wie die Vorstellung von einem einmaligen Staatsgründungsakt. Obwohl er das Buch Šaskol’skijs eingangs als „bedeutenden Schritt nach vorn“ lobte, kritisierte er die darin erkennbare Tendenz, als ob alle „westlichen Nor­mannisten Reaktionäre, Chauvinisten und Erzfeinde des sowjetischen Volkes“ seien. Der vollständige Vortrag Klejns, Šaskol’skijs Skizzen aus seinem Nachlass, die dem eigenen Vortrag zugrundelagen, so­wie seine Notizen zu Diskussionsbeiträgen von V. A. Nazarenko, G. F. Korzuchina, I. Ja. Frojanov, G. S. Lebedev, A. L. Šapiro und V. V. Mavrodin sind hier erstmals abgedruckt und durch einführende Bemerkungen und ein Nachwort des Autors von 2008 ergänzt (S. 93–142), in denen er sich im übrigen von einigen seiner damaligen Äußerungen distanziert. Mehrfach betont er nämlich, dass beim politischen Klima jener Tage ein taktisches Vorgehen mit Zugeständnissen an die Argumente der Gegenseite und mit dem Nachweis des „marxistischen Charakters“ der eigenen Position unbedingt geboten war, um überhaupt Gelegenheit zu bekommen, von einer breiteren Öffentlichkeit gehört zu werden. In den hier abgedruckten „Erinnerungen“ an das „Slavisch-warägische Seminar“ (S. 273–310) haben einige jüngere Teilnehmer diese damalige Haltung der Älteren zum Teil mit Unverständnis aufgenommen und als „kompromisslerisch“ kritisiert. „Für die Jüngeren waren im Normannismus weiterhin Elemente der Fronde, aber ernsthafte Angst existierte schon nicht mehr.“ (Ju. M. Lesman) Klejns Resümee zur Diskussion von 1965 lautet: „Wir waren die Sieger. Sanktionen blieben aus, und uns nannte man lange ‚Dekabristen‘ (die Diskussion fand im Dezember statt). Wir hatten uns für eine Reihe von Jahren die Möglichkeit erstritten, die Arbeit des Seminars fort­zu­set­zen.“ (S.141) Ein Produkt dieser Arbeit war der gemeinschaftliche Aufsatz von L. S. Klejn, G. S. Lebedev und V. A. Nazarenko über „Die normannischen Altertümer der Kiever Rus’ in der gegenwärtigen Etappe der archäologischen Erforschung“ aus dem Jahre 1970, der unter der Redaktion N. E. Nosovs und – was ihm Klejn hoch anrechnet – I. P. Šaskol’skijs erschien und in den vorliegenden Band aufgenommen worden ist (S. 145–170, mit einem Nachwort des Autors von 2008). Ich habe seinerzeit diese Arbeit und generell die der Leningrader Archäologen als das, was sie war, gewürdigt: nonkonformistisch und innovativ (vgl. Hartmut Rüß: Die Varägerfrage. Neue Tendenzen in der sowjetischen archäologischen Forschung, in: Östliches Europa. Spiegel der Geschichte. Festschrift für Manfred Hellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Carsten Goehrke. Wiesbaden 1977 [= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 9], S. 3–16), freilich in Unkenntnis der Existenz eines von der Parteibürokratie angefeindeten „Slavisch-warägischen Seminars“ und der erbitterten Grabenkämpfe hinter den Kulissen zwischen Leningrader und Moskauer (D. A. Avdusin!) Archäologen um die Deutungshoheit in der Warägerfrage. Was damals aus der Ferne nur zu erahnen war, wird hier von Klejn anschaulich dokumentiert. Nicht unerwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass er, obwohl erklärter Atheist, wegen seiner jüdischen Herkunft in seiner universitären Karriere behindert wurde und 1980 im Zuge von Repressionen gegen liberale Professoren unter dem Vorwand angeblicher Homosexualität eineinhalb Jahre Gefängnis und Arbeitslager verbüßen musste. Ein Teilnehmer des „Slavisch-warägischen Seminars“ erinnert sich: „Auf den Korridoren der Historischen Fakultät erzählten die Studenten einander im Flüsterton darüber. Irgendwie erinnerte das an das unheilvolle Jahr 1937. Darüber laut sprechen konnte man nicht.“ (I. L. Tichonov) Der Band enthält drei weitere Texte Klejns aus postsowjetischer Zeit: erstens eine hier erstmals abgedruckte Biographie Gerhard Friedrich Müllers (1705–1783, in Russland Fedor Ivanovič Miller; S. 237–258), des „Historiographen Russlands“ und Gegners Lomonosovs, mit dessen Kritik an Müllers „De origine gentis russicae“ der Normannistenstreit seinen Ausgang nahm. Seine Verdienste um die russische Wissenschaft werden von Klejn als „kolossal“ bezeichnet; ferner kritische Kommentare des Verfassers zu drei neueren antinormannistischen Publikationen aus den Jahren 1999, 2003 und 2005, die A. G. Kuz’min und V. V. Fomin als Verfasser bzw. Herausgeber haben (S. 205–220); und schließlich einen Nachruf (S. 259–270) auf seinen bedeutenden Schüler G. S. Lebedev (1943–2003), der „wie seine Wikinger-Helden ein Leben aus dem Vollen lebte“, mehr „als viele“ andere, die heute führende Positionen bekleideten, für Wissenschaft und Gesellschaft geleistet und am Ende nichts als „seine Bibliothek, unveröffentlichte Gedichte und den guten Namen“ hinterlassen habe (S. 268–269). Dass E. N. Nosov in seinem lesenswerten Nachwort (S. 344–356) V. V. Fomin und anderen Autoren des 2003 erschienenen Bandes „Antinormannismus“ einen „dilettantischen“ und „inkompetenten“ Umgang mit dem archäologischen Material attestiert, überrascht weniger als sein ausnehmend positives Urteil über I. P. Šaskol’skij, der das zur damaligen Zeit mit „mäßigen“ Fremdsprachenkenntnissen ausgestattete „sowjetische historische Auditorium“ überhaupt erst mit den Konzepten westlicher Forscher hinsichtlich des Warägerproblems und der Geschichte der frühen Rus’ durch ausführliche Zitate aus deren Werken bekannt gemacht und es dadurch mit vertiefter Kenntnis alternativer Geschichtsdeutungen sozusagen „erleuchtet“ habe. (S. 351) Den Autor des hier rezensierten Bandes charakterisiert Nosov, aber nicht nur er, als einen pädagogisch ungewöhnlich talentierten und inspirierenden Forscher, dem es gelungen sei, im „Slavisch-warägischen Seminar“ eine „echte schöpferische Atmosphäre wissenschaftlichen Arbeitens zu schaffen“ und den Enthusiasmus einer jungen Generation von Archäologen für warägische Themen zu wecken. Nosovs knapper, aber informativer bibliographischer Abriss zum Normannenproblem aus archäologischer Sicht ist ein überzeugender Beleg für diesen Sachverhalt. Das ungewöhnlich umfangreiche Literaturverzeichnis am Ende des Bandes schließlich spiegelt eindrucksvoll die an die 250 Jahre währende Beschäftigung mit dem Thema wider.

L. S. Klejns Buch ist eine durch aktuelle gesellschaftspolitische Tendenzen in Russland herausgeforderte, fesselnde Dokumentation eigener Erfahrungen mit sowjetischer Geschichtspolitik. Abgesehen davon, dass dem Leser die wesentlichen Argumente und Gegenargumente im nicht enden wollenden „Warägerstreit“ nochmals komprimiert dargeboten und die geschichtlichen Höhepunkte der Auseinandersetzung in knapper und dabei immer anregender Weise nachgezeichnet werden, ist die Publikation – und das ist zweifellos das wichtigste Anliegen ihres Herausgebers und Verfassers – vor allem ein faszinierendes Lehrstück über Ausgrenzung, Anpassung und Widerstand von Wissenschaft in einem totalitären System.

Hartmut Rüß, Münster

Zitierweise: Hartmut Rüß über: Lev S. Klejn Spor o varjagach. Istorija protivostojanija i argumenty storon [Der Streit über die Waräger. Die Geschichte des Disputs und die Argumente der Parteien]. S.-Peterburg: Evrazija, 2009. ISBN: 978-5-8071-0329-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ruess_Klejn_Spor_o_varjagach.html (Datum des Seitenbesuchs)

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