Andrej P. Pavlov (otv. red.) Pravjaščaja ėlita Russkogo gosudarstva IX – načala XVIII v. Izdat. Dmitrij Bulanin S.-Peterburg 2006. 546 S.

Das Buch hat die herrschende bzw. regierende (pravjaščaja) Elite der Rus’ und des Russischen Reiches zum Thema, ist chronologisch aufgebaut und in fünf Abschnitte gegliedert (6.–14. Jh., Ende 14. – 1. Hälfte 16. Jh., 2. Hälfte 16. Jh. – 1. Hälfte 17. Jh., 1660–1680, Beginn der Petrinischen Epoche), die von verschiedenen Autoren und Autorinnen, allesamt ausgewiesenen Kennern der Materie, verfasst wurden. Der Buchtitel sollte nicht über die begrenzte Zielsetzung des Werkes hinwegtäuschen: Das Hauptaugenmerk gilt dem fürstlichen bzw. zarischen Hof (dvor) und der Hofelite sowie deren Bestand und zahlenmäßiger Stärke, was den vorherrschend empirisch-faktologischen Charakter der einzelnen Beiträge ausmacht.

Entsprechend der Quellenlage gilt dies am wenigsten für M. B. Sverdlovs lesenswerten Eingangsbeitrag, der, orientiert noch weitgehend am innersowjetischen Diskurs, sogar besonders theorielastig und abstrakt ausfällt. Sverdlov geht es um die Rehabilitierung bzw. Inanspruchnahme des Begriffs „Feudalismus“ be­zogen auf die frühostslavische Stammesperiode und die Kiever Rus’ – und zwar jetzt nicht im Sinne des sowjetmarxistischen Dogmas von der Existenz des Feudalismus auf der Basis des großen Landbesitzes, sondern auf der Grundlage von Naturalleistungen und Geldentlohnungen. Im kormlenie, der „Durchfütterung“ der Fürstenmannen in den ihnen zur „Verwaltung“ übertragenen Gebieten, sieht er einen dem westlichen feudum analogen Sachverhalt. Unabhängig vom Begrifflichen war in der Tat die Attraktivität des Fürstendienstes wegen der Aussicht auf Beute und Entlohnung mit beweglichem Besitz ein markantes Systemmerkmal der altrussischen Fürst-Adel-Beziehung. Was im übrigen die Rolle der Skandinavier in der Frühphase der Kiever Rus’ anbelangt, so übernimmt Sverdlov eine Reihe von sogenannten normannistischen Positionen, betont aber zugleich die Bedeutungslosigkeit des ethnischen Faktors für die „herrschende Elite“, wenngleich etwa in den Byzanzverträgen (911, 944) ganz überwiegend skandinavische Namen im Umkreis der Kiever Fürsten begegnen. Und schließlich sollte nach Ansicht des Rezensenten auch im postsowjetischen Russland über die historische Angemessenheit lang vertrauter Wendungen wie „einheitlicher russischer Staat“ (bezogen auf das 10.–12. Jh.) verstärkt reflektiert werden.

Der Vorgabe, nicht von „im Voraus aufgestellten Konzeptionen und Schemata“, sondern vom „historischen Quellenmaterial selbst“ auszugehen – übrigens eine professionelle Selbstverständlichkeit –, folgt am rigidesten L. I. Ivina in ihrem Beitrag zum 14.–16. Jh., der sich weitgehend in der akribischen Auflistung der Hofelite unter den jeweiligen Moskauer Großfürsten erschöpft. Das Reflexionsniveau ist entsprechend dem rigorosen Positivismus des Beitrags gering, bei zentralen Problemen wie der Frage nach dem ständischen Charakter von Bojarentum und Duma begnügt sich die Autorin mit knappen Hinweisen auf unterschiedliche Positionen. Fast jedes Kapitel endet mit der aus der Sowjethistoriographie hinlänglich bekannten, ste­reotypen Formel von der „weiteren Festigung des russischen Einheitsstaates“, zu der – so zu Recht die Autorin – das Bojarentum entscheidend beigetragen habe. Da sich Ivina exzessiv auf die Arbeiten von S. B. Veselovskij und A. A. Zimin stützt, fragt man sich unwillkürlich, ob man nicht ebenso gut oder besser mit den Originalen bedient wäre. Die umfangreiche westliche Literatur zum russischen Adel im behandelten Zeitraum hat die Verfasserin leider überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

A. P. Pavlov, Verfasser des dritten Abschnitts, kann aufgrund seiner früheren Arbeiten als ausgesprochener Spezialist für die von ihm untersuchte Zeit gelten. Für ihn ist die Frage, von welchen Kreisen die Reformpolitik Ivans IV. ausging, wer sie vorantrieb und ob der bei Andrej Kurbskij erwähnte „Erwählte Rat“ (izbrannaja rada) als Institution überhaupt existiert hat, weiterhin offen. Nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist nach Ansicht des Rezensenten Pavlovs Auffassung, dass der Art. 98 des sudebnik zwar den bojarischen Beschluss bzw. die bojarische Zustimmung zu einem Gesetz oder einer Entscheidung festgelegt („so vsech bojar prigovoru“) und damit die aristokratische Duma als höchstes Regierungsorgan sozusagen „verfassungsmäßig“ konstituiert habe, andererseits dies aber in keiner Weise eine faktische Beschränkung der zarischen „Selbstherrschaft“ bedeutet habe. In gewissem Sinne widersprüchlich ist auch die vom Verfasser konstatierte wachsende administrative und gesetzgeberische Bedeutung von Duma und Bojarenaristokratie auf der einen Seite und die durch die Reformmaßnahmen der fünfziger Jahre vermeintlich verstärkte Abhängigkeit des Adels vom Herrscher andererseits. Wenn nach Pavlov das opričnina-System dem zarischen Streben nach „Errichtung der Selbstherrschaft“ dienen sollte, so muss folglich dieselbe von ihrem Inhaber als eingeschränkt und unvollkommen empfunden worden sein. Einigen prominenten Familien zur Zeit der Favoritenstellung Boris Godunovs scheint jedenfalls die Idee einer Beschränkung der Monarchie zugunsten der titulierten Hocharistokratie nicht fremd gewesen zu sein. Als Herrscher hat Godunov wiederum den alten Moskauer Bojaren­adel protegiert und nicht, wie lange behauptet wurde, das niedere Dvorjanentum. Die von S. F. Platonov popularisierte Vorstellung von der „politischen Einsamkeit“ des Zaren Boris im bojarisch-aristokratischen Milieu ist nach Ansicht des Verfassers nicht haltbar. Dass sich in Russland keine ständische Monarchie europäischer Prägung ausgebildet hat, führt Pavlov u.a. maßgeblich auf die seiner Meinung nach im 16. und 17. Jh. erfolgte Evolution des Adels in eine Dienstaristokratie zurück. Dem ist zuzustimmen mit der prinzipiellen Einschränkung, dass sich Adel in Russland, von der Sonderentwicklung in Novgorod/Pskov abgesehen, traditionell nie anders als durch Fürstendienst als Quelle von Macht, Ansehen und Reichtum definiert und legitimiert hat. Insofern hat auch keine „Evolution“ aus einer etwa früher bestehenden alternativen politischen Lebensform des Adels stattgefunden. Ungeachtet dieser kritischen Einwände, überzeugt der Beitrag von Pavlov besonders in jenen Teilen, in denen der „Hof“, dessen personeller und zahlenmäßiger Bestand sowie Genesis, Entwicklung und Funktionen der einzelnen Hofränge detailliert beschrieben werden.

Zum dritten Abschnitt des Bandes hat V. G. Vovina hochinteressante Ausführungen über die „kirchlichen Hierarchen“ beigesteuert. In deutlicher Distanz zur Forschung der Sowjetzeit zeichnet sie, gestützt vor allem auf vorrevolutionäre Werke und Materialsammlungen, ein plastisches und aspektreiches Bild von den orthodoxen Oberhirten in Kirche und Kloster. Sie beschränkten sich traditionell auf Ratgeber- und Fürbittefunktionen und traten als geistliche Legimitatoren des fürstlichen bzw. zarischen Willens in Erscheinung. Dass die Bedrückungen und Verfolgungen von Adel und Kirche durch Zar Ivan IV. im Zuge des opričnina-Terrors nur der Metropolit Filipp öffentlich scharf verurteilte, während seine geistlichen Standesgenossen geschwiegen haben, erklärt die Verfasserin mit der in der Orthodoxie nicht verwurzelten Tradition des Rechts zum Widerstand. Das durch den „gottgekrönten“ Zaren verursachte eigene weltliche Schicksal sah man in Gottes Hand.

Für die Zeit zwischen 1660 und 1680 registriert P. V. Sedov ein schnelles Anwachsen des „Hofes“, eine deutliche Zunahme des Anteils der Dvorjanen an den Moskauer Hofrängen sowie ein weiteres statusmäßiges Auseinanderdriften von hauptstädtischem Adel und Provinzadel. Umstritten bleibt die Frage nach der Form der Entlohnung des Dienstes, wobei – mit G. P. Jenin – auch noch im 17. Jh. mit „Durchfütterungs“-Praktiken, wie sie für die vorangehenden Jahrhunderte üblich waren, zu rechnen ist. Die Abschaffung des mestničestvo (1682) wertet Sedov zu Recht nicht als Zeichen des Machtverlusts der Bojarenaristokratie, sondern als Folge von deren Transformierung in eine „neue herrschende Elite“, die selbst an der Beseitigung dieser Institution interessiert gewesen sei. Dass die historische Forschung dem höfischen Leben und der höfischen Gesellschaft im gesamteuropäischen Kontext wenig Aufmerksamkeit gewidmet habe, kann man allein schon mit Blick auf die deutschsprachige Literatur allerdings nicht bestätigen.

E. V. Anisimov verwendet in seinem kurzen Beitrag über die Anfangsphase der Petrinischen Epoche statt „herrschender Elite“ den Terminus „Oberschichten“ (verchi) und signalisiert damit ein von den anderen Autoren und Autorinnen deutlich abweichendes Adelsverständnis. Dieser Verfasser entfernt sich im Übrigen am entschiedensten von sowjetmarxistischen Positionen. Den Aristokratiebegriff knüpft er im Gefolge einer einflussreichen vorrevolutionären Forschungsrichtung (V. O. Ključevskij!) und ihres „bürgerlichen“ Epigonentums im 20. Jh. an das Vorhandensein ständischer Institutionen und kommt deshalb zu dem Schluss, dass es in Russland keine Aristokratie gegeben habe. Ursächlich für den „despotischen“ Charakter des russischen politischen Systems sei der Einfluss der Khane gewesen, womit eine populäre Sicht auf die rückständige politische Entwicklung Russlands im Vergleich zu „Europa“ bedient wird. In einem Gegensatz zum vorangehenden Beitrag von P. V. Sedov steht Anisimovs These vom „Zerfall“ bzw. „Niedergang“ der Dienstklasse gegen Ende des 17. Jhs., obwohl er in gewissem Widerspruch hierzu an anderer Stelle konstatiert, dass nicht nur nach dem Sturz Sofijas 1689 kein sichtbarer Wechsel im personellen Bestand des Hofes stattgefunden, sondern auch die Bojarenduma ihre traditionelle Struktur bis zum Ende des Jahrhunderts bewahrt habe.

In der von A. P. Pavlov als verantwortlichem Redakteur verfassten Einleitung wird auch der bedeutende Beitrag einiger nichtrussischer Historiker(innen) zur Adelsforschung erwähnt. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, kommen sie aber sonst in dem Sammelwerk nicht vor. Ob dies ein sowjetpatriotisches Erbe des Zitierens ist oder einfach nur mangelnde Sprachkompetenz einiger, sei dahingestellt. Eine „Geschichte der herrschenden Elite des russischen Staates und ihre Evolution über den Zeitraum vom 9. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts“ (so die global formulierte Zielvorgabe in der Einleitung) ist wegen der Disparität der einzelnen Beiträge, der fehlenden konzeptionellen Geschlossenheit und der begrenzten Thematik, die weite Bereiche adliger Existenz ausspart, somit nicht entstanden, war aber wohl auch nicht beabsichtigt. Wer hingegen über Struktur, Zahl, Bestand, soziales Gesicht und die verschiedenen Funktionen der Hofelite rein faktologisch informiert werden möchte, ist mit dem vorliegenden Band gut bedient.

Hartmut Rüß, Münster

Zitierweise: Hartmut Rüß über: ANDREJ P. PAVLOV (otv. red.) Pravjaščaja ėlita Russkogo gosudarstva IX – načala XVIII v. Izdat. Dmitrij Bulanin S.-Peterburg 2006, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 419-422: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ruess_Pavlov_Pravjascaja_elita.html (Datum des Seitenbesuchs)