Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Ausgabe: 59 (2011) H. 2
Verfasst von: Meike Sach
Zbigniew Dalewski Ritual and Politics. Writing the History of a Dynastic Conflict in Medieval Poland. Leiden, Boston, MA: Brill, 2008. IX, 217 S. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 3. ISBN: 978-90-04-16657-8.
Ausgangspunkt für die Monographie des Warschauer Historikers Zbigniew Dalewski ist ein Bericht über eine schwere Auseinandersetzung zwischen dem polnischen Fürsten Zbigniew und seinem jüngeren Halbbruder Bolesław Krzywousty („Schiefmund“) um das Jahr 1111, der sich in der „Chronicae et Gesta Ducum sive Principum Polonorum“ des Gallus Anonymus findet. Gallus, ein gebildeter Kleriker, über dessen genaue Herkunft aus dem westlichen Europa die Forschung noch immer streitet, verfasste seine Chronik zu Beginn des 12. Jahrhunderts für ein polnisches Publikum zur Verherrlichung der Herrschaft des Herzogs Bolesław.
Zunächst hatte Bolesław sich mit Zbigniew versöhnt und ihm die Rückkehr nach Polen zugestanden. Bald kam es offenbar jedoch erneut zum Konflikt, in dessen Verlauf Bolesław schließlich seinen Bruder gefangensetzen und blenden ließ. Der Konflikt war damit zwar einerseits beendet, stellte andererseits für Bolesław aber weiterhin eine schwere Belastung dar. Dies lässt sich an der anschließenden öffentlichen Buße und der Pilgerfahrt des Siegers ebenso ablesen wie an den offenkundigen Bemühungen seines Chronisten, die drastischen Handlungen seines Herrn zu rechtfertigen. In seiner Chronik erwähnte Gallus eine Vielzahl von rituellen Handlungen und nutzte ihre bisweilen komplexen Bedeutungen und verschiedenen Assoziationsebenen für die Darstellung des Geschehens. Zbigniew Dalewski hat die den Konflikt der beiden Herzöge behandelnden Chroniktexte des Gallus einer genauen, Fragestellungen der Ritualforschung aufgreifenden Analyse unterzogen. Im Besonderen hat er sich dabei für die Methoden interessiert, die Gallus bei der Erarbeitung seiner Version der Ereignisse von 1111 anwandte und welche Rolle die Darstellung von Ritualen und rituellem Verhalten für die Konstruktion seines Berichtes und der Motivierung einzelner Handlungen spielten. Von der hiermit verbundenen Erforschung der tieferen Bedeutungen von rituellen Verhaltensweisen und den dahinter verborgenen Intentionen verspricht sich Dalewski darüber hinaus ein vertieftes Verständnis des dargestellten Konflikts.
In vier großen Kapiteln wendet sich Dalewski einer Gruppe von Ritualen zu, die für die Präsentation und Deutung der Ereignisse von 1111 eine zentrale Funktion besitzen: Im ersten behandelt Dalewski die Rückkehr Zbigniews aus dem Exil, die von Gallus als adventus regis dargestellt wird. Laut Dalewski ginge es bei der Schilderung gar nicht so sehr um einzelne Elemente des Zeremoniells als vielmehr um die Bedeutung, die dieses Ritual für die Demonstration von Herrschaft für die Zeitgenossen besaß. Um diese speziellen Bedeutungsebenen und ihre Nuancierungen herauszuarbeiten, zieht Dalewski eine Reihe von vergleichbaren Situationen aus der allgemeinen sowie der polnischen Geschichte des Mittelalters zum Vergleich heran. Vor diesem Hintergrund erscheint der bei Gallus dargestellte adventus des Zbigniew als eine provozierende Inszenierung, mit der unangemessene Herrschaftsansprüche dokumentiert werden sollten.
Das zweite Kapitel ist dem Themenfeld Konfliktbewältigung gewidmet. Auch hier zieht Dalewski Vergleiche zu Fällen aus verschiedenen Teilen Europas der karolingischen und nachkarolingischen Zeit heran, um die zentrale Bedeutung der deditio, eines Unterwerfungsrituals mit nachfolgenden, gleichfalls öffentlich zelebrierten Versöhnungsritualen für eine für beide Seiten gesichtswahrende Lösung von Konflikten im politischen System des frühen und hohen Mittelalters herauszustellen. Dass die deditio in diesem Sinne auch im mittelalterlichen Polen ein wichtiges politisches Instrument war, kann Dalewski an einer Reihe von Beispielen anschaulich belegen.
Eine besondere Rolle bei der Wiederherstellung gestörter öffentlicher Ordnung kommt der öffentlichen Buße zu, der Dalewski das dritte Kapitel seiner Untersuchung gewidmet hat. Auch hier zeichnet Dalewski die europäischen Traditionslinien nach und konturiert im steten Vergleich die Besonderheiten des Krakauer Bußrituals. Öffentliche Buße hatte Bolesław wegen seines Verhaltens gegenüber Zbigniew zu leisten, die durch die zur Schau gestellte humilitas sowie seine humiliatio zugleich seine Unterwerfung unter den Willens Gottes und Vertrauen in dessen Gnade ausdrücken sollte, worauf auch die anschließende Pilgerreise nach Ungarn zielte. Die humilitas stellte dabei einen zentralen Aspekt für das Rollenmodel eines idealen Herrschers dar, wie ihn Gallus laut Dalewski in Gestalt seines Helden Bolesław präsentiert: Die humiliatio stehe für die Anerkennung der eigenen Fehler sowie der durch die menschliche Natur gesetzten Grenzen, was wiederum Voraussetzung für erfolgreiches Herrschen sei. Bolesław habe durch den Demutsakt ferner die Bande seiner Herrschaft zu Gott gestärkt, wofür er in der Darstellung des Gallus anschließend mit militärischen Erfolgen und der Festigung seiner Macht belohnt worden sei.
Zuletzt wendet sich Dalewski der Frage zu, worin in der Darstellung des Gallus Anonymus und der mit ihr verbundenen Werthaltungen das Vergehen Bolesławs konkret bestanden habe, welches schließlich zum Auslöser seiner Buße und seiner Pilgerfahrten wurde. Ausgehend von dem Bericht des Cosmas von Prag über den Konflikt zwischen den beiden Herzögen und der Feststellung, dass die Blendung Zbigniews von Gallus nicht explizit erwähnt, sondern nur vage umschrieben wurde, legt Dalewski zunächst dar, dass die Blendung ein gängiges Instrument gegen vermeintliche oder echte Aufrührer im gesamten mittelalterlichen Europa und damit auch im zeitgenössischen Polen war. Der Skandal habe weniger in der Art der Verstümmelung bestanden als vor allem im Bruch des Eides, den Bolesław im Zusammenhang mit den Abmachungen geleistet habe, die der Rückkehr des Zbigniew nach Polen vorangingen und auch Vereinbarungen über ihre konkrete rituelle Ausgestaltung umfasst hätten. Dalewski zufolge würde im Bericht des Gallus auch hierüber indirekt Zeugnis abgelegt. Angesichts des sakralen Charakters einer Eidesleistung sei Meineid oder Eidbruch als schwerwiegende Verletzung der gottgewollten öffentlichen Ordnung angesehen worden. Diese Störung der Ordnung umschrieb Gallus in seiner Chronik als „Sünde“ von Seiten Bolesławs, die er jedoch durch die Darstellung eines besonders provozierenden adventus Zbigniews zu motivieren suchte, da ein adventus regis nach Dalewskis Ansicht dem Heimkehrenden ursprünglich zugestanden worden war.
Dalewski hat eine überzeugende und anregende Studie vorgelegt, in der es ihm gelungen ist, sehr unterschiedliche Ansätze der Ritualforschung, die in den vergangenen Jahren eine große Konjunktur erlebt hat, produktiv miteinander zu versöhnen: Dies gelingt ihm, indem er die verschiedenen Funktionen von Ritualen für die praktische Politik des Mittelalters sowie für die Konstruktion des Berichtes und dessen Deutungsebenen herausarbeitet. Es ist sehr erfreulich, dass Dalewskis Buch, welches 2005 auf Polnisch erschienen ist, mit der englischen Fassung jetzt auch einem breiteren Kreis von Lesern zugänglich gemacht worden ist.
Meike Sach, Kiel
Zitierweise: Meike Sach über: Zbigniew Dalewski Ritual and Politics. Writing the History of a Dynastic Conflict in Medieval Poland. Brill Academic Publishers Leiden, Boston, MA 2008. IX. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 3. ISBN: 978-90-04-16657-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Sach_Dalewski_Ritual_and_Politics.html (Datum des Seitenbesuchs)
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