Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Friederike Sattler

 

Anthony Kemp-Welch Poland under Communism. A Cold War History. Cambridge [usw.]: Cambridge University Press, 2008. XII, 444 S. ISBN: 978-0-521-71117-3.

Mit „Poland under Communism“ legt Anthony Kemp-Welch, der an der britischen University of East Anglia die Geschichte internationaler Beziehungen, sowjetischer Politik und Osteuropas erforscht und lehrt, die erste in englischer Sprache geschriebene Geschichte Polens für die Zeit des Kalten Krieges vor. In diesem Buch werden die mit Besatzung, wirtschaftlicher Ausplünderung und Völkermord verbundenen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs selbst, obwohl sie für die polnische Nachkriegsgesellschaft und die Beziehungen der Polen zu ihren Nachbarn im Westen wie im Osten von stark prägender Bedeutung waren, nur erstaunlich knapp angesprochen. Anthony Kemp-Welch setzt vielmehr einen markanten, vor allem wohl pragmatisch bedingten Schnitt und beginnt seine Geschichte mit einer Skizze der internationalen Mächtekonstellation in der Schlussphase des Krieges, um dann die Grundzüge des Stalinismus und die unterschiedlichen Muster kommunistischer Machtübernahme in den unter sowjetischer Hegemonie stehenden Ländern Ostmittel- und Südosteuropas darzulegen. Auch in den folgenden, streng chronologisch aufgebauten Kapiteln, die sich auf Polen konzentrieren, nimmt Kemp-Welch immer wieder Bezug auf die wechselnden internationalen Konstellationen und zieht gekonnt Vergleiche zu zeitlich parallelen Entwicklungen in anderen Ländern, nicht nur der sowjetischen Macht- und Einflusssphäre. Indem er dies tut, etwa bei der Frage nach den Wirkungen des Tauwetters nach Stalins Tod im Frühjahr 1953 oder der Studentenproteste in den europäischen Großstädten im Sommer 1968 auf die polnische Politik, Kultur und Gesellschaft, treten die wechselseitigen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster deutlich hervor. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht das mit „Polycentrism“ überschriebene Kapitel, in dem Kemp-Welsh die gegenseitige Beeinflussung der Entwicklungen in Polen und Ungarn im Jahr 1956 beschreibt und überzeugend darlegt, warum in Polen – anders als in Ungarn – trotz der hier wie dort aufflammenden Proteste unzufriedener Bevölkerungsteile eine harte militärische Konfrontation mit Moskau vermieden werden konnte; er misst dem geschickten Agieren des erst kurz zuvor rehabilitierten Parteichefs Władysław Gomułka zu Recht eine bedeutende Rolle zu. Gomułka wird aber keineswegs unangemessen glorifiziert, sondern in den beiden nachfolgenden Kapiteln über die in den späten fünfziger Jahren einsetzende gesellschaftliche Stagnation und die in den sechziger Jahren entstehende Gegenkultur als harter Machtpolitiker porträtiert. Ohne das Konzept der „Histoire croisée“ (M. Werner / B. Zim­mermann) zu bemühen oder sich daran explizit zu reiben, zeigt Kemp-Welch mit seiner empirisch dicht belegten, zudem glänzend geschriebenen Studie, dass multiperspektivische, transnationale Geschichtsschreibung auch ganz elegant aus dem klassischen Vergleichen und Be­schreiben von Phänomen des Transfers hervorgehen kann.

Was bei dieser Fokussierung auf die wechselseitigen, transnationalen Beeinflussungen im Bereich von Politik, Kultur und Opposition allerdings zu kurz kommt, ist zum einen die genauere Bestimmung des Stellenwerts von Ideologien – etwa Nationalismus und Antisemitismus – als gesellschaftliches Bindemittel über die von Kemp-Welch sehr stark akzentuierte Kluft zwischen den kommunistischen Eliten und der scheinbar durchwegs oppositionellen Basis der Gesellschaft hinweg; zum anderen die Beschreibung des sozialökonomischen Hintergrunds, nicht zuletzt als Erklärung für die von Kemp-Welch tendenziell unterschätzte, aber zeitweise und partiell, mit Blick auf bestimmte soziale Gruppen (Parteimitglieder, kleine Funktionäre etc.) eben doch gegebene Möglichkeit materieller Arrangements zwischen kommunistischen Eliten und Gesellschaft, etwa durch verbesserten Konsum oder das Versprechen sozialer Absicherung.

Eine besondere Stärke des Buches liegt dagegen in der Darstellung von Entstehung und Entfaltung der Solidarność-Bewegung zwischen Sommer 1980 und Dezember 1981, die in ihrer Wirkung auf die polnische Gesellschaft und den gesamten sowjetischen Machtblock gar nicht überschätzt werden kann, auch wenn die zunächst widerwillig geduldete unabhängige Gewerkschaft dieses Namens schließlich doch verboten und für Jahre in den Untergrund gedrängt wurde. Kemp-Welch kann hier von seiner früheren intensiven Beschäftigung mit der Gründung von Solidarność profitieren, und er vervollständigt und vertieft das Bild mit Hilfe neuer Quellen aus Warschau, Washington und Moskau – so entsteht eine spannende Geschichte, bis zu den dramatischen Ereignisse des Jahres 1989.

Insgesamt bietet „Poland under Communism“ einen guten Überblick über die politische Geschichte Polens in der Zeit des Kalten Krieges und vertieft dabei insbesondere das Verständnis für die Wirksamkeit wechselseitiger, transnationaler Wahrnehmungs- und Handlungsmuster. Eine Gesellschaftsgeschichte des kommunistischen Polen, die nicht nur auf das zweifellos vorhandene dichotome Aktionsmuster ‚Machthaber‘ vs. ‚Opposition‘ re­kurriert, sondern auch die auf der Basis von Ideologie hergestellten Bindungen oder die durch Konsum- und Wohlfahrtsversprechen ermöglichten Arrangements mit in die Betrachtung einbezieht, bleibt dagegen ein Desiderat.

Friederike Sattler, München

Zitierweise: Friederike Sattler über: Anthony Kemp-Welch Poland under Communism. A Cold War History. Cambridge University Press Cambridge [usw.] 2008. XII, ISBN: 978-0-521-71117-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Sattler_Kemp_Welch_Poland_under_Communism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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