Vysšie i central’nye gosudarstvennye učreždenija Rossii. 1801–1917 gg. V četyrech tomach [Höchste und zentrale Staatsbehörden Russlands. 1801–1917. In vier Bänden]. Tom 1: Vys­šie gosudarstvennye učreždenija [Höchste Staats­behörden]. Izdat. Nauka S.-Peterburg 1998. 305 S.; Tom 2: Central’nye gosudarstvennye učreždenija [Zentrale staatliche Behörden]. Iz­dat. Nauka S.-Peterburg 2001. 261 S.; Tom 3: Central’nye gosudarstvennye učreždenija [Zentrale staatliche Behörden]. Izdat. Nauka S.-Peter­burg 2002. 228 S.; Tom 4: Central’nye gosu­darst­vennye učreždenija: Ministerstvo inostrannych del, Voennoe ministerstvo, Morskoe mi­nis­terstvo [Zentrale staatliche Behörden: Außen­ministerium, Kriegsministerium, Marineministerium]. Izdat. Nauka S.-Peterburg 2004. 314 S.

Der ältere Russlandhistoriker, der die vier Bände dieses Nachschlagewerks aufschlägt und durch­blättert, gewinnt rasch den Eindruck von etwas Vertrautem: Die Gliederung und das Textbild mit den eingeschobenen Namenslisten von Ressortleitern ist ihm vom „Amburger“ (Erik Amburger Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917. Leiden 1966) vertraut, und die Abfolge der staatlichen Einrichtungen kennt er, wenn er in der Brežnev-Zeit im Zentralen Staatlichen His­torischen Archiv in Leningrad zu Themen der inneren Verwaltung des kaiserlichen Russland arbeiten durfte, aus dem „Putevoditel’“, dem nicht leicht aufzufindenden Führer für dieses Archiv.

Die dem ersten Band beigegebene Einleitung bestätigt diese Eindrücke. Sie bezieht sich ausdrücklich auf die „fundamentale Arbeit“ von Am­burger, und sie erinnert voller Respekt an N. P. Eroškin, in gewisser Weise das russische Gegenüber von Erik Amburger. Das Erscheinen des vierbändigen Nachschlagewerks ist seinem Einsatz zuzuschreiben. Zu Beginn des Jahres 2008 ist anlässlich einer Allrussischen wissenschaftlichen Konferenz in Moskau an sein mehr als vierzigjähriges Wirken am Moskauer Staatlichen Archivhistorischen Institut und an die von ihm ins Leben gerufene wissenschaftlich-pä­dagogische Schule zum Studium des Staatsapparats Russlands erinnert worden. D. I. Ras­kin, Abteilungsleiter im St. Petersburger Historischen Archiv, berichtete dort über die vorbereitenden Arbeiten mit Eroškin. Dieser konnte das Erscheinen der von ihm initiierten und dank der „von ihm hinterlassenen Ladung an Ideen und Energie“ („Zum Gedenken N. P. Eroškins“, Bd. 1, S. 16) möglichen Veröffentlichung des Werkes nicht mehr erleben.

Die von den Herausgebern als „dokumentiertes Nachschlagewerk“ bezeichnete Publikation ist das Ergebnis des Zusammenwirkens der fünf Staatlichen Archive, die das komplette Archivgut des kaiserlichen Russland von Alexander I. bis zu Nikolaus II. und – darüber hinaus – der Übergangszeit bis zur Oktoberrevolution verwalten. Federführend war das Zentrale Staatliche Historische Archiv in St. Petersburg, in dem die Hinterlassenschaft an Akten der meisten zentralen staatlichen Einrichtungen aufbewahrt wird: Das gilt mit der Einschränkung, dass das Archivgut des Außen-, des Kriegs- und des Marineministeriums in den jeweiligen Ressort­archiven liegt und bestimmte politische und polizeiliche Akten nicht nur des Jahres 1917, welche die Räteregierung ihrer Brisanz wegen beim Weggang von St. Petersburg mitgenommen hatte, sich im Moskauer Staatlichen Archiv der Russländischen Föderation befinden. Die Beiträge über die Ressorts und ihre Untergliede­rungen stammen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der beteiligten Archive, meist ehemaligen Schülern bzw. Schülerinnen Eroškins. In dessen Nachfolge war D. I. Raskin verantwortlicher Redakteur.

Archivare des Moskauer Staatlichen Archivs der Russländischen Föderation und – vornehmlich – des St. Petersburger Zentralen Historischen Archivs haben Band 1 (Höchste staatliche Einrichtungen: Reichsrat, Ministerkomitee und -rat, Senat und Senatseinrichtungen, Synod, die Eigene Kanzlei des Kaisers und die höchsten Einrichtungen nach 1905 und nach der Februarrevolution 1917), Band 2 (Zentrale staatliche Einrichtungen: Innen-, Justiz-, Finanz-, Handels-/Wirtschaftsministerium und Staatskont­rolle) und Band 3 (Verkehrs-, Land­wirt­schafts- , Kommerz-, Volksbildungsministerium und Ministerium des Kaiserlichen Hofes) verfasst.

Autoren des Bandes 4 (Außenministerium, Kriegsministerium und Marineministerium) sind Mitarbeiter der Spezialarchive der jeweiligen Ressorts: der Historisch-dokumentarischen Abteilung des Außenministeriums Russlands (Moskau), des Russländischen Staatlichen Militärhistorischen Archivs (Moskau) und des Russländischen Staatlichen Kriegsmarine-Archivs (St. Petersburg). Nicht aufgenommen wurden der Themenstellung entsprechend die von Amburger berücksichtigten lokalen Sonderverwaltungen, die diplomatischen Vertreter im Ausland und die Kaiserlichen Unterrichtsanstalten.

In der umfangreichen Einleitung gehen die Herausgeber auf die chronologischen und thematischen Eingrenzungen des Handbuchs ein. Eroškin folgend nehmen sie als Ausgangspunkt die Neuorganisation der kaiserlichen zentralen Ver­waltung seit dem Regierungsantritt Alexanders I.: die wesentlich von M. M. Speranskij nach französischem Vorbild vorgenommene Sys­tematisierung der höchsten Behörden mit dem Reichsrat als legislativer und dem Senat als judikativer Instanz sowie den Ministerien als exekutiven Instanzen. Maßgeblich für die seitdem immer wieder veränderte, erweiterte Behördenorganisation war die Allgemeine Ordnung der Ministerien, die „ihre typische Struktur und die Ordnung ihrer Tätigkeiten festlegte – alle diese Reformen bestimmten für viele Jahrzehnte im Voraus das Aussehen und den Charakter der russischen Staatsorganisation (go­sudarstvennost’)“.

Auf die Problematik der durch die Reformer um Speranskij angestrebten Verrechtlichung und der alleinigen Gültigkeit von Gesetzlichkeit angesichts der unveränderten autokratischen Prärogativen weist sowohl das Vorwort ausdrücklich hin wie auch der Umschlag der vier Bände mit dem Bild des Reichsratsiegels, darin zu lesen die Devise: „Das Gesetz geht von der autokratischen Macht aus“. Die höchsten und zentralen Staatsorgane hatten ihren Mittelpunkt in der Autokratie; von ihr leiteten sie ihre Kompetenzen und ihre Organisation ab, sie setzte ihnen Grenzen und nutzte oder ignorierte sie. Die Entwicklung der hier vorgestellten staat­lichen Einrichtungen ist von dieser Abhängigkeit bestimmt, aber auch von der grundsätzlichen Parallelität mit Ausgestaltung und Perfektionierung des Verwaltungsaufbaus in Europa während desselben Zeitraums. Die daraus entstandenen Unzulänglichkeiten und Spannungen lassen sich am besten im ersten Band an der hier vorgestellten langen Reihe von Komitees und Kommissionen im Umfeld des Reichsrats, des Ministerkomitees und der Einrichtungen der „eigenen Kanzlei Ihrer Kaiserlichen Majestät“ ablesen.

Die Informationen über die Behörden sind einheitlich gegliedert: Den höchsten Organen – Reichsrat, Senat, Synod, Ministerkomitee/-rat, Duma und unmittelbar kaiserliche Kanzleien sowie Ministerien – sind ihre nachgeordneten Behörden oder Ausschüsse zugeordnet. Jeweils angegeben sind die amtliche Bezeichnung, das Datum der Gründung und sehr ausführlich, über Amburger weit hinausgehend, die nachfolgende Geschichte organisatorischer Veränderungen. Bei den höheren Behörden werden ihre Leiter genannt, und schließlich folgen Hinweise auf die jeweils maßgeblichen Statuten, in der Regel nach der Vollständigen Sammlung der Gesetze (Polnoe sobranie zakonov, 1.–3. Serie) und dem Kodex der Gesetze (Svod zakonov). Zuletzt wird jeweils der Standort der Archivalien in einem der fünf Archive, die Bezeichnung des Fonds und dessen Umfang verzeichnet. Bei den Ausführungen über die verschiedenen Behörden haben die Autoren unmittelbar auf die jeweils in ihrem Archiv liegenden Akten zurückgegriffen. Der Historiker, der sich mit den Reichsbehörden beschäftigen will, erhält so zuverlässige Angaben über deren ihn interessierenden Aktivitäten.

Es war nicht die Absicht der Herausgeber und Verfasser, eine Geschichte der russischen Reichsbehörden, der Erfolge oder Misserfolge der staatlichen Einrichtungen für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung zu schreiben. Und doch liefern sie die dafür notwendigen Basisinformationen. Ausgehend von den seit 1801 neu gebildeten oder umgebildeten Spitzenbehörden für die drei genannten Bereiche stellen sie die Entwicklung der sich unter deren Dach jeweils entwickelnden nachgeordneten Behörden und Gremien vor. So wird z.B. auf mehr als siebzig Seiten die Differenzierung der Aufgaben des Innenministeriums durch die Einrichtung neuer Abteilungen und Kanzleien vorgestellt sowie deren weitere Umorganisationen und Reformen. Sie betreffen alle Bereiche der Innenpolitik, von der Statistik über die Medizin und das Gesundheitswesen, nichtorthodoxe Religionsgemeinschaften, regionale und lokale Verwaltung, die Standesordnungen bis hin zu den Wahlen und zur Polizei. Die innere Verwaltung verästelt sich in immer neuen Zweigen, durchdringt das Land immer intensiver und systematisiert ihren Zugriff bzw. die Aufgaben, die sie sich stellt oder die sich ihr stellen. Wichtige gesellschaftliche Entwicklungen auf dem Wege zur Bauernbefreiung und zur Freisetzung der Gesellschaft sowie zur Übertragung von Selbstverwaltungsaufgaben finden ihre Entsprechung in der Spezialisierung innerhalb der Behörde des Innenministers. Gleiches gilt auch für alle anderen Ressorts. Der Gesamtzusammenhang ist mithilfe der gewählten Gliederung und Aufteilung auf die vier Bände ebenso zu erkennen wie die Wandlungen im Detail – soweit Beschreibungen von Reorganisationen und Hinweise auf Aktenbestände das leisten können.

Die Herausgeber haben nicht versucht, auch den wachsenden und sich entwickelnden Apparat der Beamten und Mitarbeiter der Behörden zahlenmäßig zu erfassen oder hinsichtlich seiner Qualifikation Aussagen zu treffen oder auch die Leistungen und die Leistungsfähigkeit der staatlichen Einrichtungen zu bewerten. Jedoch auch ohne diese gewiss wichtigen Aspekte wird das Bild des zentralen Staatsorganismus wesent­lich über Amburger hinausgeführt und vertieft.

Dem Benutzer dieses bescheiden als Nachschlagewerk angekündigten opus magnum, das auch einige aussagekräftige zeitgenössische Bilder und vor allem Fotos von Amtsgebäuden und Amtspersonen der obersten Behörden und Ministerien enthält, werden neue Zugänge zu dem Behördensystem vermittelt, mit dessen Hilfe die autokratischen Herrscher Russland zu dirigieren und zu gestalten versuchten. Mit dieser Publikation der Schüler und Schülerinnen Eroškins ist der lebenslange Einsatz ihres Lehrers während der letz­ten Jahrzehnte der Sowjetunion dafür, dass den staatlichen Institutionen des kaiserlichen Russlands die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wird, an sein Ziel gekommen. Er wollte eine solide Basis für die Beschäftigung mit der russischen Verwaltung schaffen und das Interesse wecken, sich mit diesem Teil der Geschichte Russlands auseinanderzusetzen. Die vier Bände bieten dem Leser sowohl die Grundlagen als auch Anregungen, dieses Thema zu bearbeiten.

Bernhard Schalhorn, Lüneburg

Zitierweise: Bernhard Schalhorn über: Vysšie i central’nye gosudarstvennye učreždenija Rossii. 1801–1917 gg. V četyrech tomach [Höchste und zentrale Staatsbehörden Russlands. 1801–1917. In vier Bänden]. Tom 1: Vys­šie gosudarstvennye učreždenija [Höchste Staats­behörden]. Izdat. Nauka S.-Peterburg 1998. 305 S., ISBN: 5-02-028386-X Tom 2: Central’nye gosudarstvennye učreždenija [Zentrale staatliche Behörden]. Iz­dat. Nauka S.-Peterburg 2001. 261 S., ISBN: 5-02-028478-5 Tom 3: Central’nye gosudarstvennye učreždenija [Zentrale staatliche Behörden]. Izdat. Nauka S.-Peter­burg 2002. 228 S., ISBN: 5-02-028530-7 Tom 4: Central’nye gosu­darst­vennye učreždenija: Ministerstvo inostrannych del, Voennoe ministerstvo, Morskoe mi­nis­terstvo [Zentrale staatliche Behörden: Außen­ministerium, Kriegsministerium, Marineministerium]. Izdat. Nauka S.-Peterburg 2004. 314 S, ISBN: 5-02-027029-6, in: http://www.oei-dokumente/JGO/Rez/Schalhorn_Gosudarstvennye_ucrezdenija.html (Datum des Seitenbesuchs)