Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 143-144

Verfasst von: Claus Scharf

 

Kirill Abrosimov: Aufklärung jenseits der Öffentlichkeit. Friedrich Melchior Grimms „Correspondance littéraire“ (1753–1773) zwischen der „république des lettres“ und europäischen Fürstenhöfen. Hrsg. vom Deutschen Historischen Institut Paris. Ostfildern: Thorbecke, 2014. 301 S. = Beihefte der Francia, 77. ISBN: 978-3-7995-7468-6.

Russlandhistorikern ist der deutsche Schriftsteller Friedrich Melchior Grimm (1723–1807) vor allem durch seinen Briefwechsel mit Katharina II. bekannt, der 1764 begonnen hatte, sich aber seit April 1774 nach einem siebenmonatigen Aufenthalt Grimms am russischen Hofe intensivierte und bis zum Tode der Kaiserin verstetigte. Abrosimov analysiert aber nicht diese, wie er sie nennt, „reprivatisierte“ Korrespondenz, sondern das halbmonatliche Periodikum Correspondance littéraire, philosophique et critique (im Folgenden CL), das Grimm seit 1753 als „literarischer Korrespondent“ von Paris aus mit Diderot und Mme. d’Epinay als prominentesten Mitwirkenden herausgegeben, redigiert und mit eigenen Beiträgen gefüllt hatte, bevor er es im März 1773 seinem Sekretär Jakob Heinrich Meister als Nachfolger anvertraute. Eine Sonderrolle schreibt Abrosimov Voltaire zu, der nicht zum inneren Zirkel der philosophischen Kommunikationsgemeinschaft um die CL zu rechnen sei, obwohl Grimm das Ansehen seines Periodikums dadurch steigerte, dass er viele der Briefe des „Patriarchen“ und Vorveröffentlichungen seiner Werke aufnahm. Übrigens bestätigen die meisten Einsichten, die der Autor zu den Beziehungen zwischen den Philosophen und Katharina nun auf der Basis der CL gewonnen hat, durchaus die bisherigen Erkenntnisse aus der gleichzeitigen Korrespondenz der Kaiserin mit Voltaire.

Abrosimov lässt keinen Zweifel daran, dass er den Pionierarbeiten des Aufklärungshistorikers Jochen Schlobach (1938–2003) zu den literarischen Korrespondenzen und zu Grimm viel verdankt. Aufmerksame Leser werden jedoch rasch die wissenschaftliche Eigenständigkeit dieser von Wolfgang Hardtwig betreuten Berliner Dissertation erkennen, die über ihr Spezialthema hinaus als ein kenntnisreiches und durch klare Distinktionen methodologisch weiterführendes Standardwerk zu den Medien und Formen der Kom­mu­nikation im frankophonen Europa des 18. Jahrhunderts zu empfehlen ist. Es mindert den intellektuellen Gewinn aus der Lektüre nicht einmal, dass kyrillische Titel teils in französischer, teils in deutscher wissenschaftlicher Transkription und manchmal gar in der Umschrift deutscher Tageszeitungen wiedergegeben werden. Im Einklang mit den meisten neueren Forschungen distanziert sich der Autor in einer quellennahen empirischen Untersuchung der Vielfalt der Kommunikationsformen überzeugend von dem idealtypischen Paradigma des „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ von Jürgen Habermas. Stattdessen gilt Abrosimovs leitende Fragestellung dem Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Exklusivität, das dem Gegenstand seiner Untersuchung immanent ist und in der Kommunikationskultur der Aufklärung verstärkte Aufmerksamkeit verdient. Nicht zuletzt spielte Grimm auf die CL und seine eigene Vermittlerrolle an, als er in der Lieferung vom 1. Januar 1773, also vor jenem ersten Besuch in Petersburg, behauptete, der kontinuierliche Kontakt, der sich „ausschließlich in unserem Jahrhundert“ zwischen Fürsten und Philosophen etabliert habe, sei nicht nur für die Literatur, sondern auch durch seinen Einfluss auf den öffentlichen Geist der Regierungen von epochaler Bedeutung und der Erinnerung durch die Nachwelt wert. Doch zum anderen verblüfft der Befund, dass von der CL unter Grimms Herausgeberschaft in den Jahren 1753–1773 überhaupt nur ein einziges Exemplar in der Schlossbibliothek zu Gotha vollständig erhalten geblieben ist, auf dem daher sowohl Abrosimovs Interpretation als auch die aktuelle, auf zwanzig Bände angelegte kritische Gesamtausgabe basieren.

Der widersprüchliche Sachverhalt zwischen Grimms pathetischer Selbstverortung und der offenkundig geringen Distribution seines Mediums erklärt sich aus dessen Besonderheit: Die CL wurde handschriftlich in Briefform hergestellt, meist mit der Diplomatenpost oder über Mittelsmänner versandt und sollte im Einvernehmen der Beteiligten streng geheim gehalten werden, so dass Abschriften verboten waren. Subskribieren konnten das Periodikum nur ausgewählte Fürstinnen und Fürsten – letztlich maximal 17 Personen, überwiegend im Heiligen Römischen Reich, aber auch in Florenz, Stockholm, Warschau und Petersburg. Wie die Herausgeber anderer literarischer Korrespondenzen sah Grimm die Hauptaufgabe seines Periodikums in einer Kulturberichterstattung aus dem sich zunehmend vom Versailler Hof distanzierenden Zentrum Paris. Dabei legte er Wert auf eine von modischen Urteilen befreite, philosophisch begründete Kritik. Zudem unterschied sich seine CL, wie Abrosimov betont, im Anschluss an Montesquieus De l’esprit des lois durch laufende Informationen über die politischen Wissenschaften und Kommentare zur aktuellen Politik.

Obwohl Abrosimov die Abonnenten nicht biographisch ins Bild bringt, ragen auch in seiner systematischen Darstellung Katharina II. und König Stanisław II. August von Polen-Litauen unter den wenigen als „aufgeklärt“ anerkannten Monarchen heraus. Allerdings muss der Leser die entsprechenden Erkenntnisse zu einem erheblichen Teil über das Personenregister zusammensuchen. Katharina wurde bald nach ihrer Thronbesteigung durch d’Alembert über Russlands Gesandten Dmitrij A. Golicyn in Paris als Abonnentin gewonnen, was sie offenkundig mit ihren mäzenatischen Gesten gegenüber den Enzyklopädisten geschickt eingefädelt hatte. „Wegen ihres Ranges“ zahlte sie freiwillig sogar mehr als alle anderen Abonnenten. 1767 warb die Salondame Marie-Thérèse Geoffrin Stanisław August an. Gewiss überzeugt Abrosimovs These, es sei sowohl der Usurpatorin des russischen Throns als auch dem polnischen Wahlkönig um das „symbolische Kapital“ gegangen, das mit dem Abonnement verbunden gewesen sei, wobei umgekehrt auch Grimms Unternehmen von dem Ansehen beider Throninhaber profitiert habe. Drei Episoden charakterisieren die Beziehung des Königs zu Grimm. Erstens begeisterte sich Stanisław August so sehr für die CL, dass er 1770 vorschlug, sie zu einem offenen Diskussionsforum umzugestalten, in dem er sich konkreten Rat insbesondere von Diderot erhoffte, aber sich anscheinend auch eigene Beiträge vorstellen konnte. Doch Grimm argumentierte mit den Interessen anderer Abonnenten, dass seit jeher keine Antworten erwünscht seien. Zweitens musste der König 1773 eingestehen, mit Briefen des Abbé Galiani indiskret umgegangen zu sein, und drittens zeigte er sich nach Grimms Rückzug bald unzufrieden mit dem Periodikum und kündigte 1778 sein Abonnement.

Während Friedrich II. zu Grimm auf Distanz zu bleiben suchte, verbindet Abrosimov mit Katharina das „vollständige Repertoire der fürstlichen Kommunikationsakte“ gegenüber der CL. Dazu rechnet er ihre Briefwechsel, ihr „aufklärerisches Mäzenatentum“, also ihre großzügigen Angebote an d’Alembert und Diderot und ihre Beteiligung an den Kampagnen der Philosophen, aber auch die von ihr gestalteten Medienereignisse wie die Instruktion für die Gesetzbuch-Kommission, die quasi öffentliche Pockenimpfung oder die Übersetzung des Bélisaire von Marmontel. Für diese Gesten genoss sie die liturgische Verehrung der Philosophen. Zudem bot sich Grimm als Heiratsvermittler für den Thron­folger Paul an, und Katharina gewann Grimm und Diderot als Agenten für ihre Kunstankäufe. Soweit es um die Vermessung historischer Größe ging, hatte Stanisław August bei den Philosophen ebenfalls schlechtere Karten, da sie Erfolge in Außenpolitik und Kriegführung zu den Feldern zählten, auf denen sich beispielhaft Friedrich II. und Katharina II. Reputation und Nachruhm erworben hätten.

Claus Scharf, Mainz

Zitierweise: Claus Scharf über: Kirill Abrosimov: Aufklärung jenseits der Öffentlichkeit. Friedrich Melchior Grimms „Correspondance littéraire“ (1753–1773) zwischen der „république des lettres“ und europäischen Fürstenhöfen. Hrsg. vom Deutschen Historischen Institut Paris. Ostfildern: Thorbecke, 2014. 301 S. = Beihefte der Francia, 77. ISBN: 978-3-7995-7468-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scharf_Abrosimov_Aufklaerung_jenseits_der_Oeffentlichkeit.html (Datum des Seitenbesuchs)

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