Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 679-681

Verfasst von: Kurt Scharr

 

Burkhard Wöller:Europa“ als historisches Argument. Nationsbildungsstrategien polnischer und ukrainischer Historiker im habsburgischen Galizien. Bochum: Winkler, 2014. 478 S. = Herausforderungen, 22. ISBN: 978-3-89911-233-7.

Galizien gehörte im Verband der Habsburgermonarchie zu jenen Kronländern, derer sich die österreichischen Deutschnationalen gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur allzu gerne entledigt hätten (vgl. Helmut Rumpler: Eine Chance für Mitteleuropa. Wien 1997, S. 490), zumal die „auf Armut spezialisierte“ (oder reduzierte) Provinz (vgl. Erik Reinert: How Rich Countries Got Fich and Why Poor Countries Stay Poor. New-York 2008, S. 449) in der Außenwahrnehmung auf weiten Strecken negativ konnotiert war. Seit einem Jahrzehnt versucht das an der Universität Wien beheimatete Doktoratskolleg „Galizien“ mit Erfolg, die vielfältigen Forschungsdesiderata zu diesem Kronland, dem größten Cisleithaniens, nicht nur aufzuzeigen, sondern sie auch aus unterschiedlichsten Perspektiven systematisch zu bearbeiten und auszuleuchten. Das Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen lässt sich herzeigen (vgl. https://dk-galizien.univie.ac.at; 18.08.2016)! Dabei liegt ein zentraler Aspekt des Kollegs in der über Jahre hin interdisziplinär ausgerichteten Zusammenarbeit von Stipendiaten und Lehrenden. Nur dadurch ist es auf weiten Strecken gelungen, dem Facettenreichtum dieses komplexen Raumes entsprechend gerecht zu werden.

Auch die vorliegende, ebenfalls aus einer Dissertation (2014) am Kolleg entstandene Publikation vertieft sich in ein bislang wenig bis kaum beachtetes Feld historischer Forschung. Aus einer kulturwissenschaftlichen Position heraus schreibt der Autor „Europa“ als einem Sehnsuchts- und Zugehörigkeitsraum eine oftmals unterschätzte Bedeutung für Nationsbildungsprozesse zu. Galizien wie seine Gesellschaft – und mit dieser vorausgeschickten These eröffnet Wöller eine weitere Betrachtungsebene – gerieten zudem, als ein von Wien mit den polnischen Teilungen künstlich hergestellter Raum, selbst zum unmittelbaren Gegenstand mehrerer (nicht unbedingt deckungsgleicher) um Europa kreisender Diskurse (S. 14). Dementsprechend baut der Autor seine zentrale Fragestellung auch um die beiden den Europa-Diskurs in entscheidender Weise und hauptsächlich prägenden Gruppen des Kronlandes, nämlich die polnischen und ruthenischen Historiker an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, auf. Viele dieser Historiker haben zwar zunächst ihre Wurzeln an den (österreichisch) galizischen Bildungseinrichtungen, setzen ihre fachlichen Tätigkeiten nach 1918 allerdings unter gänzlich veränderten politischen Bedingungen in Polen, für zumeist kurze Zeit auch in der Ukraine und v. a. im Exil fort.

Der Fokus des Autors liegt auf der Konstruktionsleistung dieser Europa-Vor­stel­lung(en) durch die jeweilige Gruppe, ihre zu differenzierenden Instrumentalisierungsabsichten und nationalen Ziele (S. 15). Das mental-map-Konzept, ein methodischer Ansatz, der ursprünglich von der Psychologie stammt und über die Geographie und den spatial turn nun schon vor einigen Jahren auch in den (deutschsprachigen) Geschichtswissenschaften angekommen ist, findet hier Anwendung. Über den gewählten analytischen Zug wird der Europa-Diskurs letztlich überhaupt erst sichtbar (S. 24). Wöller greift bei diesem für ihn methodisch wichtigen Aspekt auf die ursprünglichen Arbeiten von Roger M. Downs und David Stea (1973/1977/1982) zurück. Neuere Arbeiten in diese Richtung (Downs/Stea 2005) bzw. erweiternde Studien dazu aus dem angelsächsischen Raum (Derek Gregory: Geographical Imaginations, 1988; David Hooson: Geography and National Identity 1994); div. Beiträge von Denis Cosgrove u.a.) finden keinen Eingang in die Überlegungen.

Aufbau und Bearbeitung des Gesamtthemas sind konsistent aufeinander abgestimmt. So breitet Wöller im Anschluss an den einleitenden methodischen Abschnitt im zweiten Kapitel (Auf dem Weg zu einer modernen Geschichtswissenschaft in Galizien) die Genese der für den Diskurs maßgeblichen höheren Bildungsinstitutionen des Kronlandes aus. Aus diesen sind in der Folge mehrere Historikergenerationen erwachsen, die den Diskurs befeuerten und weiter trugen. Dazu gehörte etwa Michajlo Hruševs’kyj (1866–1934), der später zu den zentralen nationalen Historikerfiguren der Ukraine aufsteigen sollte. Der identitätsstiftende Impetus seiner Arbeiten sollte jedoch erst nach 1991 wirklich sichtbar werden. Hruševs’kyj war bis 1914 in Lemberg tätig und nach 1917 auch in der Rada in Kiew als Politiker aktiv. Von polnischer Seite wäre Ludwik Finkel (1858–1930) zu nennen. Er arbeitete bis zum Ende der Habsburgermonarchie am Lehrstuhl für Österreichische Geschichte der Universität Lemberg, zählte jedoch zugleich zu den Vertretern der polnischen Historikerschule. In den vier darauf folgenden zentralen Kapiteln der Arbeit diskutiert der Autor auf breiter Literaturbasis die Diskursfelder (Kapitel 3: Fortschrittsnarrative; Kapitel 4: Zivilisierungsmissionen; Kapitel 5: Bollwerk-Mythen). Als teilweise überlappende Analyseebenen legt Wöller die Felder Wissenschaft, populäre Publizistik und Erziehung bzw. Bildung fest. In dem diesen Teil abschließenden sechsten Kapitel („Europa“ in der Weltkriegspropaganda) verdichten sich die zuvor behandelten Aspekte vor allem in ihrer durch den Krieg bedingten Radikalisierung. In der Hoffnung auf die Gründung von Nationalstaaten oder zumindest die Erlangung weitgehender Autonomien (innerhalb des Habsburgerreiches) brachen sich einerseits die Galizien bestimmenden Gegensätze zwischen Polen und Ruthenen endgültig Bahn. Andererseits schärften sich die Konturen des Zugehörigkeitsbewusstseins zu Europa aus dem Negativen gegenüber der als ins „Barbarische“ abgleitenden Wahrnehmung von der Andersartigkeit Russlands.

Ein Aspekt, den der Rezensent ungeachtet der vorliegenden Leistung dennoch als zentral für die kontextuale Einbettung der von Wöller gewählten Fragestellung erachtet, erfährt hingegen kaum die nötige Aufmerksamkeit. In der europäischen Dimension dieses Diskurses bleibt die Habsburgermonarchie als organische Gesamtheit weitestgehend ausgeblendet oder findet als Akteur lediglich nebenbei Erwähnung. Es erscheint, als ob die hier behandelten Historiker allseits (noch während des Bestehens der Monarchie) bereits weit über Österreich hinausgedacht bzw. dieses in ihren Arbeiten als Kategorie gar nicht mehr als existent wahrgenommen hätten. Dem steht über die ganze zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts der durchaus erfolgreiche Versuch Wiens gegenüber – ganz im Sinne des Franzisco-Josephinischen Wahlspruches „Viribus Unitis“ – das übergeordnete, supranationale Gemeinsame in den Vordergrund zu stellen. Freilich steht die Bedeutung der galizischen „Autonomie“, die Rolle des sog. Polenklubs in den Wiener Regierungen für die dominante Stellung der „Polen“ und der katholischen Kirche im Kronland außer Frage; der in Konsequenz dazu bis 1914 stetig wachsende ruthenische Gegenpol wurzelt geradezu in dieser Struktur. Gleichwohl besaß die Habsburgermonarchie zumindest in der staatstragenden Ideologie eben auch eine europäische Dimension eigener Prägung. Der vielschichtige Komplex der habsburgischen Reichsidee (sei es jetzt über Österreich, Cisleithanien oder die Doppelmonarchie insgesamt) wird in der vorliegenden Studie nur am Rande über die Frage dynastischer Legitimation (S. 130) oder die Loyalität gegenüber der Dynastie angesprochen (S. 377) und eigentlich nicht im größeren Kontext thematisiert. Stepan Rudnyc’kyj (1877–1937), Privatdozent für Geographie in Lemberg, studierte u. a. beim Geographen Albrecht Penck (1858–1945) in Wien. Hinter „den methodischen und theoretischen Grundlagen geografischer Raumanalysen“, die Rudnyc’kyj in Wien bei Penck erarbeitete (vgl. S. 99) steckte mit großer Wahrscheinlichkeit auch das,von seinem Lehrer vertretene Mitteleuropakonzept habsburgischer (Wiener) Prägung, das sich in seiner Ausdehnung nach Süden und Osten grundlegend vom reichsdeutschen Konzept (u.a. von Joseph Partsch, 1851–1925) unterschied. Hier wäre nunmehr zu prüfen gewesen, inwieweit das von Wöller untersuchte Europa-Konzept davon abweicht oder damit deckungsgleich ist. Es bleibt anzunehmen, dass die vom Autor diskutierte ‚Europäizität‘ letztlich doch Teil dieser Mitteleuropäischen habsburgischer Prägung war. Alle drei erwähnten Diskursfelder lassen sich zudem ohne weiteres eben auch auf die Perspektive Wiens herunterbrechen. Die mission civilisatrice im Osten (und Südosten!) des Reiches gehörte gerade aus Sicht Wiens zu den existentiellen Angelpunkten des eigenen staatlichen Selbstverständnisses. Damit wäre dann die Frage österreichischer Staatlichkeit an sich tangiert. Ist etwa die Ideologie habsburgischer Gesamtstaatlichkeit (zumindest auf Cisleithanien bezogen, wozu Galizien zu rechnen wäre) auch in der Diskussion nicht-(mehr)-deutschsprachiger Universitäten wie Lemberg oder Krakau präsent (bzw. gehörte das ausschließlich zu den ‚refugialen‘ Besonderheiten deutschsprachiger Universitäten der Monarchie, wie etwa im benachbarten Czernowitz)? Die Polonisierung galizischer Universitäten bedingte die Einrichtung von Lehrstühlen für polnische Geschichte. Inwieweit standen beispielsweise diese in einem ideologischen Gegensatz zu den Lehrstühlen für Österreichische Geschichte? Das alles findet in dieser Form bei Wöller keine entsprechende Berücksichtigung, weder aus der polnischen noch aus der ruthenischen Perspektive. Das spezifisch „Habsburgische“, wie es die Studie im Untertitel führt, bleibt fragmentarisch und wäre doch für den weiter gefassten Kontext miteinzubeziehen gewesen. Europa als Idee und Konzept wird – und das zeigt sich zu Beginn der Arbeit – offensichtlich zu stark vom Ende her, von der Gegenwart aus gedacht (S. 11), durch dieses Raster fallen ältere Nuancen leicht hindurch. Besonders gelungen erscheint hingegen die synthetisch verlaufende Darstellung der jeweils als konstitutiv für die eigene Identität geltenden historischen Ereignisse wie der Befreiung Wiens 1683 (vgl. Kapitel 5.7) und der von den Historikern dabei formulierte Anspruch auf die Deutungshoheit. Hier zeigten sich klar die nationalen Gegensätze in der Wahl der Interpretationsperspektive zwischen deutschen, polnischen und ruthenischen Historikern.

Die eingebrachte Facette einer in der Summe zu wenig präsenten habsburgischen Gesamtperspektive ist als Anregung für ein Weiterdenken zu verstehen. Der unbestreitbare Mehrwert dieser Studie liegt indes in der fachlich hervorragenden Syntheseleistung des Autors, dem es gelungen ist, den (galizisch) polnischen wie ukrainisch/ruthenischen Europadiskurs der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Vergleich zusammenzuführen; ihn durch eine minutiöse, detailreiche Analyse der dazu vorhandenen zeitgenössischen Literatur offenzulegen und in seiner Vielschichtigkeit zu bewältigen. Dieser Umstand wird allein schon durch das über 70 Seiten umfassende reichhaltige Literaturverzeichnis dokumentiert. In den vor 1914 zeitweise parallel zueinander verlaufenden polnischen und ruthenischen Historikerdiskursen an den galizischen Universitäten lässt sich deutlich eine sich intensivierende „Funktionalisierung von Europa“ (S. 375) für das jeweils eigene Ziel größerer Autonomie oder staatlicher Unabhängigkeit erkennen. So reichten diese Diskurse bereits zeitgenössisch weit über die Grenzen des Kronlandes hinaus und wirkten in der Folge nach 1918 vielfach bestimmend für das neuerstandene Polen. Die Ukraine bzw. ihre Historiker hatten dafür im Bestand der Sowjetunion vergleichsweise nur wenig Zeit und politischen Raum zur Verfügung. Sie und ihre universitären Institutionen beteiligten sich als Organe eines unabhängigen Staates an dieser Diskussion erst wieder nach 1991.

Kurt Scharr, Innsbruck

Zitierweise: Kurt Scharr über: Burkhard Wöller: „Europa“ als historisches Argument. Nationsbildungsstrategien polnischer und ukrainischer Historiker im habsburgischen Galizien. Bochum: Winkler, 2014. 478 S. = Herausforderungen, 22. ISBN: 978-3-89911-233-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scharr_Woeller_Europa_als_historisches_Argument.html (Datum des Seitenbesuchs)

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