Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 284-286

Verfasst von: Ralph Schattkowsky

 

Zivilgesellschaft im östlichen und südöstlichen Europa in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Jörg Hackmann und Klaus Roth. München: Oldenbourg, 2011. 294 S., Abb., Tab. = Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa, 5. ISBN: 978-3-486-70495-2.

Es ist still geworden um die Zivilgesellschaft. Eine kategorische Diskussion, wie sie noch bis Mitte der Nullerjahre sozialwissenschaftliche Disziplinen bewegte, gibt es nicht mehr. Der Begriff der Zivilgesellschaft wird zwar in Politik, Öffentlichkeit und auch in den Wissenschaften mit großer Normalität gebraucht, aber kaum mehr kritisch hinterfragt. Dass dieser Zustand nicht befriedigen kann, liegt auf der Hand, zumal die wissenschaftliche Diskussion zur Kategorie „Zivilgesellschaft“ zu einem Zeitpunkt aufhörte oder zumindest stark an Intensität abnahm, als der Begriff bei der Analyse seines Gebrauchs durch ernstzunehmende Wortmeldungen mit dem Befund einer hohen Beliebigkeit belastet wurde und eigentlich zu Grabe getragen war. Umso erfreulicher ist es, dass soeben ein Band erschienen ist, der sich dem Thema kritisch widmet. Obwohl er auf eine Tagung im Herder Institut Marburg zurückgeht, die bereits 2003 stattfand, ist er auf dem Hintergrund einer diskursiven Brache gut platziert und trotz seiner Ungleichzeitigkeit geeignet, die Diskussion wieder aufzunehmen. Das umso mehr, als er in Theorie und historisch-politischer Praxis eine ganze Reihe von wertvollen Anregungen und praktischen Modellen liefert.

In seinen einführenden Bemerkungen zur Forschungsdiskussion weist Jörg Hackmann auf den Stellenwert der Zivilgesellschaft als „Dreh- und Angelpunkt gesellschaftswissenschaftlicher Diskurse“ (S. 9) hin und verbindet seine „Wiederentdeckung“ mit den Oppositionsbewegungen in Ostmitteleuropa sowie dem Ende des Ost-West-Gegensatzes. Gleichzeitig bewertet er ihn, auf Habermas verweisend, als allgemeingültigen Begriff moderner Gesellschaftsentwicklung, der sich keinesfalls allein mit den Umwälzungsprozessen in Ost- und Ostmitteleuropa oder gar mit Opposition verbindet; diese hätten jedoch den Begriff in Breite und Tiefe erweitert. In sieben Punkten fasst Hackmann die Ergebnisse der Diskussion zusammen und formuliert daraus einen Forderungskatalog für die weitere Forschung zu Zivilgesellschaft in Osteuropa. Dabei geht es vor allem um das Verhältnis von Zivilgesellschaft zu Staat, Gruppe und Privatem sowie zu Nation und Religion. Schließlich ist es die den Beitrag abschließende, von Dieter Gosewinkel eingebrachte Bemerkung des Autors, die weitreichende Konsequenzen für die Forschung zur Zivilgesellschaft hat, nämlich „inwieweit Macht, Gewalt und Exklusion nicht Gegenteil, sondern Teil der Zivilgesellschaft waren und sind“ (S. 20). Damit wird die Kategorie aus einem a priori-Gegensatz von Herrschaft und Gesellschaft herausgenommen und die bisher konstitutive positive Konnotierung in Frage stellt. Die übrigen 14 Beiträge des Sammelbandes wenden sich für verschiedene Regionen und Staaten Ost- und Ostmitteleuropas der Zivilgesellschaft unter assoziativen Aspekten genauso zu wie deren wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Gesichtspunkten und erfassen dabei die zeitliche Spanne vom Übergang des Ständestaates zur modernen Gesellschaft bis in die Gegenwart.

Das assoziative Element ist wohl der bisher am deutlichsten akzentuierte Aspekt der Zivilgesellschaftsforschung. Das schlägt sich auch im vorliegenden Band nieder. Hackmann beschäftigt sich mit der „Vereinstopographie Dorpats“ unter dem Blickwinkel des gesellschaftlichen Wandels, Denis Hanovs (Riga) mit dem Rigaer lettischen Verein und der lettischen nationalen Presse und Elena Mannová (Bratislava) mit dem Vereinswesen in der Slowakei im 19. und 20. Jahrhundert. Die Artikel nehmen die traditionellen Ansätze der Vereinsforschung auf, wie wir sie aus der Bürgertums- und Elitenforschung kennen, und bewerten ihren Beitrag zur nationalen Emanzipation als entscheidendes konstitutives Element moderner Nationalstaatsentwicklung. Ähnlich gelagert sind die Aufsätze von Gabriele Wolf (München) über das Theater als zivilgesellschaftliche Bildungsinstitution in Bulgarien um 1900 und Claudia Weber (Hamburg) über die nationale Erinnerungskultur in Bulgarien (1878–1944).

Drei Beiträge beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Konfession und Zivilgesellschaft bzw. mit dem konfessionsspezifischen Gruppenverhalten als zivilgesellschaftlicher Entäußerung. Hermann Beyer-Thoma (Regensburg) versucht die Frage zu beantworten, ob die Altgläubigen als frühe Vertreter einer Zivilgesellschaft in Russland zu bewerten sind. Er geht von dem Widerspruch aus, dass Religion zwar als außerhalb des Staates stehend angesehen wird und damit nicht unbedingt seiner Regulierung unterliegt, womit ein Kriterium der Zivilgesellschaft erfüllt wird, andererseits aber eine solche Zuweisung nur schwer „mit den exklusiven Bedingungen und Gehorsamsgeboten vor allem der monotheistischen Religionen“ (S. 95) vereinbar ist. Eine Lösung dieses Widerspruchs sieht der Autor vor allem in der Verbindung von Religion mit sozialem und politischem Protest sowie ihrem Reformcharakter, wobei er sich auf die Thesen Max Webers stützt (S. 96). Auf dieser Grundlage entwirft der Autor ein Bild des Altgläubigentums, das bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein eine religiöse Rechtfertigung für die Schaffung unabhängiger Organisationen gewesen sei. Es habe eine spezifische Ethik der Eigenverantwortung entwickelt, allerdings unter den Bedingungen von Verweltlichung und Nationalismus sehr schnell an Einfluss verloren und sich aufgelöst. Elegiusz Janus (Marburg) widmet sich der „organischen Arbeit“ im preußischen Teilungsgebiet Polens und dem Anteil der katholischen Kirche an diesem Prozess der Selbstorganisation, woraus sich eine nahezu stringente konfessionelle Zuweisung der Zivilgesellschaft ableitet. Aus der Berücksichtigung konfessioneller und ethnischer Gegebenheiten entwickelt Juliane Brandt (München) ein interessantes Modell gesellschaftlicher Selbstorganisation an der Schwelle der Moderne. Am Beispiel der Besiedelung weiter Teile Ungarns im Zuge der Verdrängung der Osmanen schildert sie die Notwendigkeit gesellschaftlicher Organisation unter den Bedingungen traditioneller konfessioneller und ethnischer Exklusionsvorgänge und deren Einfluss auf Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Zusammenlebens an einem Ort.

Diese Fallbeispiele stellen am deutlichsten die Frage nach Sinn und Anwendbarkeit des Begriffes der Zivilgesellschaft nicht zuletzt deshalb, weil sie die Aspekte von Macht, Gewalt und Exklusion beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen berücksichtigen. Die daraus abgeleiteten Fragestellungen tauchen in dem Beitrag von Klaus Roth (Minden) teilweise wieder auf. Er analysiert die Entwicklung der Zivilgesellschaft nach 1989 und fragt nach dem Zusammenhang von autochthonem gesellschaftlichen Wandel und Transformation als Übernahme westlicher Vorgaben oder Vorbilder. Dabei konzentriert sich der Autor auf die offensichtlich defizitäre Entwicklung der Zivilgesellschaft in Rumänien und Bulgarien. In vier Punkten versucht er sich daran, dieses Phänomen zu erklären, bleibt allerdings zu sehr dem althergebrachten Muster des Ost-West-Dualismus als zivilisatorische Metapher verhaftet, in dem er die Probleme an den westlichen, vermeintlichen Idealvorstellungen abarbeitet. Die versprochene ethnologische Sicht bleibt dabei weitestgehend verborgen.

Der Band versucht, den interdisziplinären Zugang an den Anfang zu stellen. So folgen dem Beitrag von Roth Artikel aus verfassungsrechtlicher und wirtschaftlicher Perspektive. Angelika Nußberger (Köln) betrachtet die Zivilgesellschaft als neues Konzept des Verfassungsrechts und vermag dem normativen Prozess der Verrechtlichung von Zivilgesellschaft interessante Aspekte abzugewinnen. Sie führt den Leser anhand der Analyse der neuen Verfassungen der Länder Ostmitteleuropas nach 1989/90 in den Versuch ein, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft rechtlich als permanenten Dialog zu verankern, was so in keiner Verfassung westlicher Demokratien vorkommt. Darin sieht sie nicht nur eine unterschiedliche Tiefe der konstitutionellen Fixierung der Zivilgesellschaft, sondern auch eine andere Konnotierung demokratischer Elemente und staatlicher Exekutiven als direktes Produkt der Qualität des demokratischen Umbruchs in den postsozialistischen Staaten. Karl von Delhaes (Marburg) ergänzt diesen interdisziplinären Zugang durch die Betonung der konstitutiven Elemente der Zivilgesellschaft für eine funktionierende Marktwirtschaft und als notwendige Vervollkommnung staatlicher Lenkungs- und Regulierungsmechanismen.

Zwei Beiträge beschäftigen sich mit der Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie. Anhand der Darstellung der Etappen zivilgesellschaftlicher Entwicklung setzt sich Harald Heppner (Graz) mit dem theoretischen Anspruch des Begriffes auseinander und bewertet ihn am konkreten Objekt kritisch. Das betrifft vor allem seine Verwendung als „Denk- und Reflexionsmodell“ bzw. seine „politische Verbindlichkeit“ (S. 184). Dabei wendet sich der Autor gegen die Auffassung, dass die Zivilgesellschaft nur im national einheitlichen Rahmen zur Entfaltung kommen könne. Robert Luft (München) bietet dazu mit seiner Fallstudie zum cisleithanischen Teil der Habsburgermonarchie eine sinnvolle Ergänzung. Er konzentriert sich auf die Verankerung bürgerlicher Rechte im Verfassungssystem und ihre praktische Nutzung bei der Selbstorganisation der tschechischen Gesellschaft. Der Band wird abgeschlossen durch eine Studie von Alexander Molnar (Belgrad), die nach dem zivilgesellschaftlichen Charakter der Bürgerinitiativen beim Sturz des Milošević-Regimes in Jugoslawien fragt.

Dass die Masse der Beiträge versucht, sich an den eigentlich gar nicht so verschiedenen Definitionen der Zivilgesellschaft zu orientieren, entspricht der gängigen Methodik. Den Anspruch einer Arbeit an der Definition erhebt der Band nicht, sondern er dient der weiteren Historisierung der Zivilgesellschaft, wie im Eingansartikel als Ziel des Bandes formuliert. Implizit wird dadurch die berechtigte Frage gestellt, ob es denn überhaupt sinnvoll ist, die Zivilgesellschaft bei aller Existenzberechtigung des Begriffes bzw. der Kategorie als ein festes Projekt zu betrachten und ob es nicht sinnvoller und praktikabler wäre, sie als ein dynamisches Prinzip gesellschaftlicher Selbstorganisation mit ausgesprochener Vielgestaltigkeit zu behandeln und damit die Möglichkeit zu eröffnen, sie auch in ihrer Widersprüchlichkeit zu erfassen. Dazu hat der Band sicher einen dauerhaften Beitrag geleistet.

Allen Artikeln sind Literaturverweise beigegeben, die sich auf eine angefügte Bibliographie beziehen.

Ralph Schattkowsky, Rostock / Thorn

Zitierweise: Ralph Schattkowsky über: Zivilgesellschaft im östlichen und südöstlichen Europa in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Jörg Hackmann und Klaus Roth. München: Oldenbourg, 2011. 294 S., Abb., Tab. = Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa, 5. ISBN: 978-3-486-70495-2, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Schattkowsky_Zivilgesellschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Ralph Schattkowsky. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.