Helena Goscilo, Andrea Lanoux (Hrsg.) Gender and National Identity in Twentieth-century Russian Culture. Northern Illinois University Press DeKalb, IL 2006. X, 257 S., Abb.
Trotz zahlreicher Umbrüche und Veränderungen in der russischen Geschichte und Kultur des 20. Jahrhunderts halten sich bis heute in der Gesellschaft stereotype Sichtweisen, nach denen die Nation als weiblich und der Staat als männlich charakterisiert wird. Die diskursiven Praktiken solcher Zuschreibungen sind das Thema des vorliegenden Sammelbandes, der zehn anregende Beiträge aus den Bereichen Geschichte, Anthropologie, Linguistik, Film-, Musik- und Literaturwissenschaft umfasst. Die Aufsätze sind chronologisch angeordnet und umfassen den Zeitraum vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis heute. Die analytischen Kategorien „Gender“ und „nationale Identität“ dienen zur Erforschung, wie ein Anderes konstituiert, unter welchen sozialen Bedingungen die russische Nation als weiblich oder männlich identifiziert wurde und welche Auswirkungen diese geschlechtsbezogenen Vorstellungen von Nation auf das Alltagsleben von Männern und Frauen besaßen.
In der ausführlichen Einleitung verweisen die Herausgeberinnen auf die auch für Russland geltende Denktradition, die Erde sei weiblich und der Himmel männlich. Diese Vorstellung wurde sprachlich durch das grammatikalische Geschlecht vieler Länderbezeichnungen manifest, die in der Folge oft durch Frauenallegorien abgebildet wurden. Komplementär dazu entstand die Annahme, dass im Gegensatz zur abstrakten weiblichen Nation der Staat männlich sei. In Russland wurde diese Zuweisung durch die Oktoberrevolution kurzfristig durchbrochen, da Frauen nun durch den ženotdel politisiert und aktiviert werden sollten. Trotz einer deutlich sichtbaren Präsenz von Frauen in Politik und Gesellschaft zumindest in den Zwanzigerjahren spielten sie weiterhin eine nachgeordnete Rolle im Staat. Imaginierte weibliche Orte blieben der häusliche Bereich und die Familie, während Männer öffentlich agierten. Helen Goscilo führt diese Einteilung auf mittelalterliche Denkfiguren zurück und stellt somit den revolutionären Anspruch der Bol’ševiki in Bezug auf die Gleichheit der Geschlechter in Frage. Für sie bleiben die Vorstellungen von Geschlecht und Nation durchgängig mit Mythen behaftet, die es zu dekonstruieren gelte. Die Herausgeberinnen verweisen auf die vorhandene englischsprachige Forschungsliteratur, allerdings wäre eine Rezeption der früheren deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema wünschenswert gewesen.
Valentina Zaitseva wählt einen sprachwissenschaftlichen Zugang, um zu zeigen, in welchem Maße Sprache durch ihr grammatikalisches System bereits Wirklichkeit schafft. Durch das weibliche Substantiv rodina (Heimat), das auf den Wortstamm „gebären“ verweist, finde eine Feminisierung des Nationsbegriffes statt, während sich das Neutrum otečestvo, basierend auf dem Stamm „Vater/väterlich“, sehr viel stärker auf den Staat beziehe. Sprache schaffe somit ein Symbolsystem, das sich auch in der Bildsprache von Plakaten wiederfinde. Aber auch die Sprecher und Sprecherinnen selber nähmen durch die Verwendung des grammatikalischen Geschlechts Gender-Zuschreibungen vor.
Helen Goscilo beschäftigt sich mit Witwen, die im Westen als sozialpsychologisches oder ökonomisches Phänomen betrachtet würden, in Russland hingegen einen anderen Stellenwert hätten. Witwenschaft sei greifbar in Zusammenhang mit Kriegsverlusten, dem Gulag-System oder mit prominenten Männern. Witwen seien oftmals autoritative Quellen für die Erinnerung an eine Person, stünden also im Schatten der Verstorbenen. Männer würden kaum als Witwer wahrgenommen, da ihre Identität existentiell konstruiert sei, die weibliche aber eher relational zu Familie oder Gesellschaft.
Elisabeth Jones Hemenway thematisiert die „Mütter des Kommunismus“ und untersucht Memoiren und Selbstzeugnisse von Sozialrevolutionären und Bol’ševiki. Diese Texte wurden von bestimmten Erzählhaltungen und literarischen Vorbildern geprägt und verweisen auf Diskurse wie etwa den um die Identität von Revolutionärinnen. Letztere standen oftmals im Spannungsfeld zwischen individuellen und kollektiven Lebensentwürfen. Die revolutionäre Bewegung wurde auch als Bruderschaft, Gemeinschaft oder Familie dargestellt, in der Frauen doch wieder Randfiguren waren. Das Bild der Gesellschaft als Familie wurde seit Beginn der 1930er Jahre stark propagiert, wobei Frauen als Mütter oder Schwestern dargestellt wurden, die sich selbstlos für eine Sache opferten. Lilja Kaganovsky untersucht am Beispiel des Filmes „Putevka v žizn’“ (Der Weg ins Leben) von Nikolai Ekk den verschränkten Diskurs über eine ideale sowjetische Identität und Männlichkeitsvorstellungen. In dem ersten sowjetischen Tonfilm werden Straßenjungen scheinbar freiwillig durch Arbeit und Disziplin zu neuen Menschen erzogen. Männliche Kameradschaft wird ebenso wie ein gesunder Körper als Grundlage der neuen Gesellschaft beschworen.
Suzanne Ament vertritt in ihrem diskutierbaren Beitrag die These, dass Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg zur Verfestigung von Geschlechteridentitäten beigetragen hätten. Angesichts der Ausnahmesituation des Krieges, an dem auch über eine Million Frauen in der Roten Armee beteiligt waren, war die kollektive Identität eher individuell-national als kollektiv-staatlich konnotiert. Sie beschreibt kurz die Produktion verschiedener Lieder durch offizielle Stellen, bei der fast keine Frauen beteiligt gewesen seien. Elena Prokhoriva widmet sich der Analyse der visuellen Kultur in der Brežnev-Ära. Sie untersucht den Zusammenhang von Männlichkeitsentwürfen und nationaler Identitätskrise in Fernsehserien. Während die weibliche Identität konstant zu bleiben schien, hatten es Männer schwerer mit der Definition von Selbstbildern. Durch den Tod Stalins und das Tauwetter seien Entwürfe des männlichen Helden ins Wanken geraten, die vor allem in Form von Erinnerungen weiter tradiert wurden, während die männliche Staatsspitze zunehmend vergreiste, und Alkoholismus, häusliche Gewalt und Feminisierung verschiedener Lebensbereiche als Zeichen einer nationalen Identitätskrise gewertet werden könnten. Michele Rivkin-Fish sieht im Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 die größte nationale Krise, die mit einer – sich im Gefolge der wirtschaftlichen Misere noch verschärfenden – demographischen Krise zusammenfiel und auch so diskutiert wurde. Scheinbar private Phänomene wie Geburtenraten, Fruchtbarkeit oder Sterblichkeit wurden nun öffentlich diskutiert. Eine antifeministische Haltung wurde in der Forderung nach einem Abtreibungsverbot deutlich. Eliot Borenstein beschäftigt sich ebenfalls mit der Wahrnehmung dieser nationalen Krise. Der Anstieg von Pornographie, Prostitution und Frauenhandel seit der Perestroika galt nicht als Ausdruck von Gewinnsucht, sondern als Ausdruck der Krise der russischen Männer, die ihre Frauen nicht ernähren oder beschützen konnten. Erst 2003 wurde der Frauenhandel per Gesetz eingeschränkt. Luc Beaudoin beschreibt die Herausbildung einer russischen homosexuellen Kultur, die erst nach Aufhebung des Verbotes homosexueller Handlungen im Jahr 1994 sichtbar werden konnte, aber weiterhin als westlicher Import gilt.
Der Sammelband bietet einem interessierten Forschungspublikum verschiedener Disziplinen anregende Untersuchungen in Hinblick auf die Verwendung der Kategorie „Gender“ aber auch in Bezug auf die Analyse verschiedener textueller und bildlicher Quellen. Er ist durch die ausführlichen Literaturangaben und einen Index auch als Studienbuch geeignet.
Carmen Scheide, Konstanz
Zitierweise: Carmen Scheide über: Helena Goscilo, Andrea Lanoux (Hrsg.) Gender and National Identity in Twentieth-century Russian Culture. Northern Illinois University Press DeKalb, IL 2006. ISBN: 978-0-87580-609-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 449-451: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scheide_Goscilo_Gender.html (Datum des Seitenbesuchs)