Andrej V. Doronin (otv. sost.) „Vvodja nravy i obyčai Evropejskie v Evropejskom narode“. K probleme adaptacii zapadnych idej i praktik v Rossijskoj imperii [„Die europäischen Sitten und Gebräuche in einem europäischen Volk ein­führen.“ Zum Problem der Adaption westlicher Ideen und Praktiken im Russländischen Im­perium]. Izdat. Rosspėn Moskva 2008. 255 S., Tab., Ktn. = Rossija i Evropa vek za vekom, 18. ISBN: 978-5-8243-0996-6.

Das im September 2005 eröffnete Deutsche Historische Institut in Moskau veranstaltete im Juni 2006 eine Konferenz zum Thema „Das 18. Jahrhundert. Transfer und Adaption europäi­scher Ideen im russischen historischen Kontext“. Zehn russische und vier deutsche Autorinnen und Autoren, die meisten von ihnen Historiker, lieferten als Teilnehmer des bilateralen Treffens Beiträge zu dem Konferenzband. Die spezifische Zusammensetzung des Autorenkreises führte dazu, dass in ihm vorrangig die Aufnahme deutscher Ideen und Praktiken in Russland behandelt wird. Thematisch verwandte Bei­träge erscheinen in Blöcken, so zu den aufgeklärten Reformen Katharinas II., zu den Ausländern (vor allem Deutschen) in russischen Diensten, zu Begriffsgeschichte, Landeserschließung, Universität und Bildung sowie zum Verlagswesen.

Nach einem Begrüßungswort von Andrej Do­ro­nin resümiert Claus Scharf im umfangreichsten Aufsatz des Bandes die Entwicklung der Forschung über die durch eine rege Reformtätigkeit gekennzeichneten Regierungszeiten Pe­ters I. und Katharinas II. Mit Rückblick auf die mittelalterliche Rus’ geht der Autor auf die Traditionslinie der göttlichen Legitimierung der autokratischen Zarenherrschaft und die im Zeitalter der Aufklärung geführten Debatten über die bestmögliche Staatsform für Russland ein. Katharina zog für ihre Argumentation zugunsten einer auf feste Gesetze gegründeten Monarchie als erste die westeuropäische Literatur heran. Aleksandr Kamenskij hält in seinen Betrachtungen über die Reformen Katharinas II. eine bloße Gegenüberstellung von aufgeklärter The­o­rie einerseits und ihrer mangelnden Umsetzung in die Praxis andererseits für unzureichend. Die Notwendigkeit von Reformen auf re­gio­naler Ebene sei der Kaiserin schon 1763/64 bewusst gewesen und nicht erst durch den Pugačev-Aufstand 1773/1775 vor Augen ge­führt worden. Bisher gebe es nur wenige Untersuchungen über die Durchführung der Reformen in den Gouvernements. Igor’ Kurukin, der bereits in seiner Monographie über die Epoche der „Palast-Revolten“ 1725–1762 (Rjazan’ 2003) eingehend die Projekte des Adels während des Streits um die Thronfolge 1730 untersucht hatte, plädiert für eine quellenkritische Edition der damit im Zusammenhang stehenden Dokumente. Nikolaj Petruchincev, jetzt in Lipeck tätiger Autor einer monographischen Studie über die Regierungszeit Anna Ivanovnas (St. Petersburg 2001), versucht den Anteil der Deutschen an der politischen Elite des Imperiums in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu erfassen. Über viele der von ihm erwähnten Militärs und Beamten wäre noch die inzwischen recht umfangreiche ausländische Literatur heranzuziehen. Wie die in Russland lebenden Ausländer bei der Untersuchung von „Staatsverbrechen“ mit dem im Zarenreich herrschenden Rechtssystem konfrontiert wurden, zeigt Evgenij Ry­ča­lovskij anhand von Gerichtsakten aus dem Russischen Staatsarchiv für alte Akten (RGADA). Der geographischen Erschließung des Reiches widmen sich Georg Schuppener, der über statistische Werke deutscher Russlandautoren berichtet, und Kristina Küntzel-Witt, die die Entdeckung Sibiriens von Messerschmidt bis Pallas behandelt. Die mit den Expeditionen verbundene Diskussion über die Längenausdehnung Asiens wurde im europäischen Maßstab geführt. (Dazu sei auch noch auf den Aufsatz von J. Dörf­linger in dem 1976 in München erschienenen Sammelband „Formen der europäischen Auf­klärung“ verwiesen.) Mit dem 2006 von Peter Thiergen herausgegebenen Studienband „Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit“ wurde damit begonnen, die Verwendung von sozialen Typenbegriffen und deren semantisches Umfeld nunmehr auch im Russländischen Imperium zu untersuchen. Ingrid Schierle verdeutlicht, wie die von Montesquieus „De l’Esprit des Lois“ inspirierte europäische Debatte über den „Nationalgeist“ und den „Volkscharakter“ auch in Russland aufgegriffen wurde. Es ist zu wünschen, dass sie bald ihre Maßstäbe setzenden, jedoch bisher an verschiedenen Stellen publizierten begriffsgeschichtlichen Studien zusammenfassen kann. Der Begriff raby (Sklaven) wurde, so Elena Marasinova, immer häufiger von der Bezeichnung poddannye (Untertanen) abgelöst. Als graždane (Staatsbürger) galten die sich bewusst am Reformwerk Katharinas beteiligenden städtischen Einwohner wie auch – bereits im Sinne von citoyen – die Angehörigen der sich emanzipierenden Schicht der Gebildeten. Im ersten der Beiträge zum Universitätswesen zeigt Andrej Andreev, dass Katharina II. entgegen der bislang vorherrschenden Meinung die Universitäten nicht als eine veraltete Institutionsform rundweg ablehnte, sondern mindestens drei Reformversuche unternahm. Zwischen 1765/66 und 1778 war die Kaiserin vorsichtig gegenüber Universitätsreformplänen der Professoren, weil sie zu viele Kosten verursacht hätten. Katharina wandte sich vom deutschen Vorbild ab und regte den umfassenden nationalen Bildungsplan O. Kozodavlevs von 1787 an. Iri­na Kulakova, die 2006 eine Monographie über den Moskauer „universitären Raum“ und seine Bewohner im 18. Jahrhundert veröffentlichte, charakterisiert die Herausbildung von Traditionen und sozialen Normen an der 1755 gegründeten Universität. Galina Smagina untersucht, wie seit Peter I. und Leibniz pädagogische Ideen aus dem deutschsprachigen Raum in Russland aufgenommen wurden, und benutzt dabei in erfreulichem Umfang die ausländische Literatur. Die buch- und verlagsgeschichtlichen Forschungen hatten bereits seit den sechziger Jahren des 20. Jh. (S. P. Luppov, I. F. Martynov) zu ergiebigen Resultaten geführt. Dieser Tradition folgend, stellt Aleksandr Samarin die ersten privaten Druckereien in Russland vor, vor allem die des seit 1767 in St. Petersburg tätigen Johann Michael Hartung. Vladimir Somov setzt seine Studien über den Weg der in Braunschweig und Hamburg am Ausgang des 18. Jahrhunderts erscheinenden französischsprachigen Literatur nach Russland fort.

Der Band zeigt, dass einige russische Beiträger aus wissenschaftlichen Einrichtungen im Landesinnern noch große Schwierigkeiten bei der Beschaffung ausländischer Literatur haben, woraus Lücken bei der Bearbeitung der Themen resultieren. Mehrere Autorinnen und Autoren unterhalten Kontakte zu der internationalen „Study Group on Eighteenth Century Russia“, in der Literaturwissenschaftler dominieren, sowie zu dem Arbeitskreis, der die französisch-russischen kulturellen Kontakte im 18. Jahrhundert untersucht. In der Koordinierung der Aktivitäten dieser Forschungsgruppen besteht eine wichtige Aufgabe.

Michael Schippan, Wolfenbüttel

Zitierweise: Michael Schippan über: Andrej V. Doronin (otv. sost.): „Vvodja nravy i obyčai Evropejskie v Evropejskom narode“. K probleme adaptacii zapadnych idej i praktik v Rossijskoj imperii [„Die europäischen Sitten und Gebräuche in einem europäischen Volk einführen.“ Zum Problem der Adaption westlicher Ideen und Praktiken im Russländischen Imperium]. Izdat. Rosspėn Moskva 2008.ISBN: 978-5-8243-0996-6., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 283: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schippan_Doronin_Vvodja_nravy.html (Datum des Seitenbesuchs)