Mariana Hausleitner Deutsche und Juden in Bessarabien 1814–1941. Zur Minderheitenpolitik Russlands und Großrumäniens. IKGS Verlag München 2005. 255 S., Kte. = Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS). Wissenschaftliche Reihe (Geschichte und Zeitgeschichte), 102. ISBN: 3-9808883-8-X.
Die Monografie Mariana Hausleitners zum Verhältnis von Deutschen und Juden in Bessarabien füllt eine Forschungslücke. Die beiden ersten Hauptkapitel sind der Entstehung der Multiethnizität in Bessarabien und dem Leben der Ethnien in Parallelgesellschaften mit Berührungspunkten im Handel und auf dem Arbeitskräftemarkt gewidmet. Das umfangreiche Kapitel über Bessarabien unter rumänischer Herrschaft 1918–1940 schließt daran an, und das Kapitel zu Bessarabien auf dem Weg zur nationalen „Homogenität“ streift die Umsiedlung der Deutschen und die Deportation der jüdischen Bevölkerung nach Transnistrien. Im Schlussteil werden die Kontakte zwischen Deutschen und Juden resümiert, die Wahrnehmung der Juden durch die Deutschen gestreift und die Unterschiede in der staatlichen Minderheitenpolitik aufgezeigt. Ein Personenregister erleichtert die Suche nach Querverbindungen; ein Sach- und Ortsregister wäre wünschenswert gewesen.
Die jüdische Bevölkerung Bessarabiens konzentrierte sich im 19. Jahrhundert in den Städten und Marktflecken; sie orientierte sich stärker als die deutsche Bevölkerung an der russischen Kultur und stellte ein wesentliches Element des wirtschaftlichen Aufschwungs der Städte dar. Aufgrund beruflicher Restriktionen (z.B. Nichtzulassung zum Staatsdienst) war die Mehrheit der Juden wie auch der Griechen und Armenier im Handel tätig. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten nur 12,5 % als Bauern in 17 landwirtschaftlichen Kolonien. Jüdische Genossenschaften, die von ausländischen jüdischen Organisationen unterstützt wurden, bildeten vor allem während der Weltwirtschaftskrise eine Konkurrenz zu deutschen Genossenschaften und dem bessarabiendeutschen Wirtschaftsverband.
Die deutsche Bevölkerung lebte seit der Ansiedlungszeit ab 1814 überwiegend auf dem Land und von der Landwirtschaft. Bis 1897 hatte sich ihre Gesamtzahl mehr als verdoppelt (knapp 60.000), ihr prozentualer Anteil geringfügig auf 3,1 % (Juden: 11,8 %) erhöht. Russen waren im 19. Jahrhundert vor allem in der Verwaltung, der Justiz und im Klerus vertreten. Zar Aleksandr II. (1855–1881) hatte zahlreiche Reformen in Gang gesetzt, die von den Kolonisten als Einschränkung ihrer Selbstverwaltung wahrgenommen wurden, so die Auflösung des Fürsorgekomitees, die Eingliederung in die zemstvo-Verwaltung, schulpolitische Maßnahmen und nicht zuletzt die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Diese Reformen wie auch die Aufhebung der Leibeigenschaft und die liberale Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung trugen aber zur Modernisierung des Russischen Reiches bei. Auf die wilde Gewalt erster Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung nach der Ermordung Aleksandrs II. folgte die kontrollierte Gewalt der Repressionspolitik. Wirtschaftliche Schwierigkeiten und Sozialneid ließen zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Antisemitismus und die Pogromstimmung in den Städten Bessarabiens aufleben. Viele Juden flüchteten sich in die deutschen Dörfer. Während des 1. Weltkriegs litten alle sog. „feindlichen Ausländer“ (Juden, Deutsche und Rumänen) unter scharfen Restriktionen wie Verhaftungen, Landverlust oder Deportationen. Der Sturz des Zaren und die anschließende Februarrevolution 1917 verhinderten die massenhafte Deportation Bessarabiendeutscher nach Sibirien, und sie förderten die kulturelle Autonomie der Minderheiten.
Der rumänisch dominierte Landesrat (Sfatul Ţării), anfangs als Übergangslösung bis zur Einbindung in die gesamtrussische Konstituante gedacht, verselbstständigte sich nach den Ereignissen der Oktoberrevolution und proklamierte im Dezember 1917 die autonome Moldauische Demokratische Republik. Die rumänische Regierung in Iaşi beschloss Anfang Januar 1918 die militärische Intervention in Bessarabien. Im Gerangel um Macht und Einflussnahme siegten letztlich die im April 1917 gegründete „Nationale Moldauische Partei“ und die rumänische Regierung, die ihre Politik des Anschlusses Bessarabiens an Rumänien mit allen Mitteln durchsetzte. Die Anschlussgegner wurden verfolgt, ausgewiesen oder ermordet. Den Landesrat löste man Ende November 1918 nach Verabschiedung des Agrargesetzes auf. Die Umverteilung des Landes erfolgte ab 1920/1921, brachte aber keinen wirtschaftlichen Aufschwung, da die Parzellen zu klein waren und Betriebskapital, Arbeitsmittel sowie Absatzmärkte fehlten.
Auf der Pariser Friedenskonferenz ließen sich die Siegermächte neben der Berücksichtigung der Ansprüche Rumäniens auch von strategischen Gesichtspunkten leiten und optierten nach den Rückschlägen der „weißen Armee“ im Oktober 1920 für die Zugehörigkeit Bessarabiens zu Rumänien. Bessarabien stand bis auf die Jahre 1928–1933 unter Kriegsrecht, was eine erhebliche Einschränkung auf sämtlichen Lebensgebieten darstellte und jeglichen Protest gegen die rumänische Herrschaft schnell kriminalisieren konnte. Soziale und nationale Unruhen führten 1924 zum Aufstand von Tatarbunar, der von rumänischer Seite als ausschließlich kommunistische Agitation hingestellt wurde. Wirtschaftliche Einbußen, die Weltwirtschaftskrise, die Verfolgung der kommunistischen Partei in Bessarabien, die Denunzierung von Juden als Kommunisten und der größer werdende Zulauf zu Rechtsparteien schürten einen offenen Antisemitismus, der schon Anfang der zwanziger Jahre in Gewalttätigkeiten mündete und in den dreißiger Jahren zu gesetzlichen Restriktionen und Verfolgungen führte.
Die Anschuldigungen, Verdächtigungen und Verhaftungen jüdischer Führungspersönlichkeiten trugen dazu bei, dass in den zwanziger Jahren keine Koalitionen zwischen Deutschen und Juden zur gemeinsamen Verteidigung der Minderheitenrechte zustande kamen, obwohl gerade sie die Bevölkerungsgruppen mit dem höchsten Bildungsstand darstellten und viele kulturelle oder schulische Einrichtungen zu verlieren hatten. Die deutschen Volksschulen erlagen einer schleichenden Verstaatlichung und boten der zunehmenden Zentralisierung und „Rumänisierung“ (z.B. Ersetzung deutscher Lehrer durch rumänische, Abschaffung der deutschen Unterrichtssprache und des Religionsunterrichts) ein Einfallstor.
Spätestens seit 1933 radikalisierten sich die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden in Bessarabien. Nach Hausleitner war die „Radikalisierung der Deutschen aus Bessarabien [...] zum einen Folge des Scheiterns der Verhandlungspolitik der konservativen Führer und zum anderen Folge der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich“ (S. 152). Außerdem habe die „Frontstellung der rumänischen Behörden gegen den deutschen Schulunterricht“ (S. 164) zur Radikalisierung insgesamt beigetragen. Die Unzufriedenheit mit der Bündnispolitik der alten Elite führte zur weiteren politischen Zersplitterung der Deutschen, die ab 1937 auch der rechtsextremen Cuza-Partei zugute kam. Die junge, in Deutschland ausgebildete Elite und ein Teil der Lehrerschaft mit ihrem Zentrum in der Lehrerbildungsanstalt in Sarata begeisterten sich für den Nationalsozialismus und sein bevorzugtes Feindbild und verbündeten sich mit den in Siebenbürgen entstehenden nationalsozialistischen Bewegungen Fabritianischer und Bonfertscher Richtung. Gegen Ende der dreißiger Jahre vermehrten sich die Einflüsse und Eingriffe reichsdeutscher Stellen in die Belange der deutschen Minderheit in Bessarabien.
Nach der Besetzung Bessarabiens durch die Rote Armee ließ sich die deutsche Bevölkerung nahezu vollzählig ins Deutsche Reich umsiedeln, während etliche unterdrückte Juden aus Rumänien nach Bessarabien einzuwandern suchten. Mit der Rückeroberung Bessarabiens durch Rumänien begann die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Längerfristig setzte die rumänische Regierung auf „ethnische Homogenisierung“, um Bessarabien endgültig an Rumänien zu binden. Diese Pläne erledigten sich mit der Niederlage der deutschen und rumänischen Verbände an der Ostfront.
Die Beziehungsgeschichte der Deutschen und Juden in Bessarabien wird erstmals ausführlich über die gesamte Siedlungszeit hin dargestellt. Sie reichte von einer friedlichen Koexistenz und Annäherungen bis hin zu Abgrenzungen unter dem wachsenden Antisemitismus bessarabiendeutscher Intellektueller in den dreißiger Jahren. Exogene und endogene Ursachen der Radikalisierung innerhalb der deutschen Bevölkerung nach 1933 werden analysiert und die Ergebnisse erscheinen im Großen und Ganzen überzeugend. Zu klären bleibt die Kirchen- und Schulpolitik des lutherischen Bezirkskonsistoriums in Bessarabien, das den Führungswechsel in den dreißiger Jahren mit den folgenden Krisenerscheinungen mit zu verantworten hatte. Reichsdeutsche Subventionen für konfessionelle Schulzwecke flossen seit Mitte der zwanziger Jahre über die bessarabiendeutsche Kirchenleitung, nicht den „Kulturverein“ (S. 164), insbesondere an die Mittelschulen. Ein Dachverband aller Kulturvereine existierte erst seit 1933, vermittelte aber keine Subventionen.
Der Autorin gelingt es auch, anhand von Aktenmaterial aus dem Nationalarchiv der Republik Moldau die politischen Verhältnisse, die verschiedenen ethnischen Optionen, wechselnden Koalitionen und Bündnisse der Zeit zwischen Februarrevolution 1917 und endgültigem Anschluss Bessarabiens an Rumänien im Dezember 1918 minutiös nachzuzeichnen und aufzuschlüsseln. Mit dem Begriff „Rumänisierung“ beschreibt die Autorin alle Regierungsmaßnahmen, die die Institutionen der Minderheiten oder deren Besitz schwächten bzw. schmälerten und auf die Dominanz rumänischer Einrichtungen bzw. der Rumänen hinarbeiteten. „Rumänisierung“ gerät so zum Gegenteil von Modernisierung, während die „Russifizierung“ unter Aleksandr II. der Modernisierung der Provinz gedient habe.
Die vorliegende Studie ist als Meilenstein der kritischen Erforschung des multiethnischen Gebiets Bessarabien, seiner politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interdependenzen mit den angrenzenden Nachbarregionen anzusehen und korrigiert den tendenziös gefärbten Blick mancher einheimischer Historiker rumänischer, moldauischer oder russischer Provenienz.
Cornelia Schlarb, Ebsdorfergrund
Zitierweise: Cornelia Schlarb über: Mariana Hausleitner: Deutsche und Juden in Bessarabien 1814–1941. Zur Minderheitenpolitik Russlands und Großrumäniens. IKGS Verlag München 2005. = Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS). Wissenschaftliche Reihe (Geschichte und Zeitgeschichte), 102. ISBN: 3-9808883-8-X, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 609-611: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schlarb_Hausleitner_Deutsche_und_Juden.html (Datum des Seitenbesuchs)