Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 334-335
Verfasst von: Jürgen W. Schmidt
Sven Freitag: Ortsumbenennungen im sowjetischen Russland. Mit einem Schwerpunkt auf dem Kaliningrader Gebiet. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2014. 206 S., 14 Graph., 24 Tab. = Kieler Werkstücke. Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte, 10. ISBN: 978-3-631-65589-4.
Bei vorliegendem Werk handelt es sich um eine Kieler Dissertation zur osteuropäischen Geschichte vom Jahr 2013, welche bei Ludwig Steindorff entstand. Auf Grund des Themas ist das Buch nicht nur für Historiker, sondern ebenso für Sprachwissenschaftler, besonders natürlich für Slawisten interessant.
Eingangs postuliert Freitag, dass Ortsumbenennungen ein Teil der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts seien, also nicht allein nur ein sowjetisches Phänomen. Er belegt dies an vielfältigen Beispielen, unter anderem in Elsass-Lothringen und in Südtirol. Selbst wenn es folglich Ortsumbenennungen schon immer, also auch in Russland bereits vor 1917 gab, änderten sich doch danach in erheblichem Umfang die Anzahl und die Motive. Galt es vorher vor allem, nicht ‚wohlklingende‘ Ortsnamen mit Bezeichnungen aus dem Geschlechtsleben bzw. der Fäkalsprache oder aber beleidigenden Inhalts zu eliminieren bzw. herausragende Persönlichkeiten zu ehren, so nahmen in der frühen Sowjetunion Quantität und Qualität der Ortsumbenennungen eine neue Dimension an. Es galt nun, vermeintlich politisch belastete Ortsnamen ändern und zugleich der neuen, kommunistischen Ideologie und Propaganda und dem beginnenden Personenkult durch Ortsumbenennungen entsprechenden Raum zu verschaffen. Ab 1945 wurden derartige Anstrengungen intensiviert, wie Freitag nicht nur am Beispiel des Kaliningradskaja oblast’, sondern auch anhand von Ortsumbenennungen auf den Japan 1945 wieder abgenommenen Kurilen sowie in den vormals finnischen Gebieten des Leningradskaja oblast’ aufzeigt. Hier ging es aus propagandistischen und ideologischen Gründen um eine „kontrollierte Änderung der Namenslandschaft“. Diese Maßnahme diente einerseits der Identitätsfindung der neu anzusiedelnden Bevölkerung, doch ebenso, und dieser Befund überrascht, der Russifizierung durch Ausweitung des russischen Sprachraums. So lehnte man eine, im Prinzip eigentlich naheliegende, Anregung von hohen litauischen Funktionären ab, im nördlichen Ostpreußen 1945/46 auch litauische Ortsnamen einzuführen. Insgesamt unterscheidet Freitag auf S. 65 fünf Zeitperioden für Umbenennungen zu sowjetischer Zeit. Er geht aus slawistischer Sicht ausführlich und sachkundig auf die dazu verwandten Oikonyme ein. Historisch interessant ist die große Rolle des Zufalls bei der Umbenennung. So wurde die alte slawische Bezeichnung für Königsberg, „Korolevec“, zwar geprüft, aber aus ideologischen Gründen verworfen. Eigentlich sollte die Stadt nunmehr „Baltijsk“ heißen, doch starb zufällig wenige Wochen vor der amtlichen Umbenennung Michail Kalinin am 3. Juni 1946, und so erhielt sie ihren heute noch gültigen Namen. Der Ortsname „Baltijsk“ fiel deshalb an die nahegelegene Hafenstadt Pillau. Einen sowjetischen „Masterplan“ zur flächendeckenden Ortsumbenennung hat es in der spätstalinistischen Sowjetunion nie gegeben. Es galt vielmehr die Regel: Je größer die umzubenennende Stadt bzw. Ortschaft war, auf desto „höherer“ Ebene wurde über den neuen, natürlich ideologisch „richtigen“ Namen entschieden. Interessant sind Freitags Beobachtungen, dass trotzdem gerade in Ostpreußen alte und neue Ortsnamen zumeist mit demselben Buchstaben anfangen. Ähnlich wie dem Rezensenten aus Polen bekannt ist, behielten dabei Ortschaften mit Bahnhöfen mit am längsten ihre alten Bezeichnungen, weil hier schnelle und spontane Umbenennungen zu einem Verkehrschaos geführt hätten
Insgesamt hat Sven Freitag eine anregende Arbeit auf einem noch wenig bearbeiteten Gebiet verfasst. Kritisch wäre anzumerken, dass die bekannten 26 Kommissare in Baku nicht geköpft, wie auf S. 202 fälschlich angegeben, sondern erschossen wurden. Zudem sind die im Originalmanuskript höchstwahrscheinlich farbigen Diagramme in den nunmehr ununterscheidbaren Grautönen der Druckfassung kaum noch eindeutig lesbar (z.B. S. 162 und 163).
Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: Sven Freitag: Ortsumbenennungen im sowjetischen Russland. Mit einem Schwerpunkt auf dem Kaliningrader Gebiet. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2014. 206 S., 14 Graph., 24 Tab. = Kieler Werkstücke. Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte, 10. ISBN: 978-3-631-65589-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt_Freitag_Ortsumbenennungen.html (Datum des Seitenbesuchs)
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