Bogdan Musial Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen. Propyläen Verlag Berlin 2008. 586 S.

1989 erschütterte ein übergelaufener sowjetischer Geheimdienstoffizier unter dem Pseudonym Viktor Suworow mit seinem Buch „Der Eisbrecher“ die Fachwelt, behauptete er doch freiweg, Hitler sei am 22. Juni 1941 mit seinem Angriff nur um wenige Wochen einem militärischen Vorstoß Stalins Richtung Deutschland zuvorgekommen. Die darauffolgende historische Auseinandersetzung nahm schnell die Form eines „Glaubenskrieges“ an. Suworow und seine Parteigänger wurden dabei u.a. sogar verdächtigt, Hitler exkulpieren zu wollen. Bogdan Musial, der schon öfters bewiesen hat, dass er es geradezu liebt, „heiße Eisen“ in der historischen Forschung anzupacken, kann nunmehr mit seinem Buch belegen, dass sich Suworow bei der Interpretation der politischen Absichten und strategischen Ziele Stalins keineswegs geirrt hat, wohl aber bei seiner These vom im Sommer 1941 unmittelbar bevorstehenden militärischen Antreten Stalins gegen Deutschland.

Im Gegensatz zum analytisch vorgehenden Suworow, der sich bei seinen Darlegungen allerdings nur auf die seinerzeit öffentlich zugänglichen sowjetischen Memoirenbücher und militärhistorischen Schriften stützen konnte, gelang es Musial nunmehr in beträchtlichem Umfang, in russischen Archiven fündig zu werden und mit brisanten Dokumenten aus den innersten Zirkeln der sowjetischen Macht (inklusive vieler bislang unbekannter Äußerungen Stalins und dessen engster Mitarbeiter) seine Behauptungen auch zu belegen. Wie Suworow in seinen Büchern „Tag M“ und „Die letzte Republik“ als Grundmotiv verlauten lässt, war die sowjetische Politik spätestens seit dem Ausklingen des Bürgerkriegs auf eine aggressive Ausdehnung des eigenen Gesellschaftsmodells weltweit ausgerichtet. Zentraleuropa, und hier vor allem Deutsch­land, lag dabei im Blickpunkt sowjetischer Interessen und galt als die wichtigste zu bewältigende Etappe bei der erfolgreichen Durch­führung der weltweiten Revolution. Die für die sowjetische Führung unerwartete Niederlage im Kampf gegen Polen 1920 – Musial geht ausführlich auf die militärische Vorgeschichte des „Wunders an der Weichsel“ ein – stoppte zwar vorerst eine direkte sowjetische Expansion Richtung Zentraleuropa, änderte aber nichts an den Grundlinien sowjetischer Politik. Brutal wurde nun die Sowjetmacht im Innern des Landes gefestigt. Unter bewusster In­kauf­nahme von Mil­lionen Hungertoten wurde die Bauernschaft ausgeplündert und eine Industrie aus dem Boden gestampft, die als Grundlage für die sowjetische Rüstung diente. Bei der Ausrüstung der Armee setzte man, hierbei sehr modern denkend, vorrangig auf die Luftwaffe, auf Panzer, aber auch auf chemische Waffen. Überraschend deutlich kann Musial herausarbeiten, dass man sowjetischer­seits energisch an der Entwicklung und Pro­duktion chemischer Kampfstoffe arbeitete und auch keinerlei Skrupel besaß, diese im zukünftigen Krieg massenhaft einzusetzen.

Es erstaunt gleichfalls die von Musial aufgezeigte, brutale Flexibilität sowjetischen außenpolitischen Denkens, wobei man etwa im Jahr 1923 keinerlei Bedenken hatte, Polen im Gegenzug für den Transit sowjetischer Truppen in Richtung Deutschland die Provinz Ostpreußen zu versprechen. Dabei war man insgeheim der Auf­fassung, es schade keineswegs, sollte die ver­meintliche „Vendée“ Deutschlands für einige Zeit in polnische Hand geraten. Späterhin würde deren Rückeroberung und Angliederung an ein „Sowjetdeutschland“ kaum Schwierigkeiten ma­chen. Deutlich wird aber auch, wie man ab Beginn der dreißiger Jahre unter dem geistigen Ein­fluss Michail Tuchačevskijs bemüht war, eine riesige Panzermacht und eine ebenso riesige Luft­flotte buchstäblich aus dem Boden zu stamp­fen. Nur die mangelnden Produktionskapa­zitäten dämpften die machtpolitischen Ambitionen Stalins. Wie seinerzeit schon Suworow her­ausfand, bestand dessen politisches Kalkül darin, die imperialistischen Mächte in einen bewaffneten Konflikt untereinander zu drängen. Die Sowjetunion sollte erst nach der allgemeinen Schwächung aller am Konflikt beteiligten im­perialistischen Mächte, dann aber mit geballter Faust, zuschlagen und als lachender Dritter die Früchte des großen Krieges ernten.

Die vorrangig in englischer Sprache erschienenen, und von Musial in seinem Buch deshalb wohl leider nicht berücksichtigten Forschungen und Erkenntnisse des führenden deutschen Mari­nehistorikers Jürgen Rohwer sowie seiner russischen Ko-Autoren zur geplanten Entwicklung der sowjetischen Kriegsflotte unter Stalin bestätigen übrigens überzeugend Musials Auffassungen von der rasanten Entwicklung des sowjetischen Militärpotentials. Musial wiederum spart nicht mit deutlicher Kritik an Historikern wie etwa Bianka Pietrow-Ennker (S. 396), welche selbst heute noch nicht zwischen der offiziellen (pazifistischen) sowjetischen Propaganda und der realen Stalinschen Politik unterscheiden. Musial will bewusst die sowjetische Propagandalüge von der angeblich friedliebenden sowjetischen Außenpolitik in den dreißiger Jahren und den Mythos von der Sowjetunion als „unschuldiges Opfer des Zweiten Weltkriegs“ (S. 467) in Frage stellen. Davon unberührt bleibt, dass Hitler im Jahr 1941 die Sowjetunion in Un­kenntnis der Stalinschen Kriegspläne für die nähere bzw. fernere Zukunft angriff, also eindeutig einen Eroberungskrieg und keineswegs einen Prä­ventivkrieg führte und rein zufällig dabei Sta­lin „auf dem linken Fuß erwischte“. Stalin hatte nach Musials Auffassung Hitlers Abscheu vor einem Zwei-Fronten-Krieg eindeutig überschätzt und das eigene militärische Antreten in etwa auf das Jahr 1943 terminiert.

Dass Musial bei manchen Bewertungen und Darlegungen den polnischen Staat der Zwischen­kriegszeit in einem besseren Licht sieht, als diesem eigentlich zukommt, sei ihm in Anbe­tracht seines persönlichen und beruflichen Werdegangs verziehen. Zu kritisieren ist jedoch in seinem Buch die leider oft nur mangelhafte deutsche Umschrift von Namen und Bezeichnungen aus dem Russischen und, fast ebenso häu­fig, die nur mangelhafte Übersetzung militärtechnischer Termini. So heißen zum Beispiel die šturmoviki auf Deutsch „Schlachtflieger“ und nicht „Sturmflugzeuge“. Die berüchtigten La­ger-Inseln im Weißen Meer tauchen hingegen gleich in drei unterschiedlichen Schreibweisen als „Solowetzki-“ (S. 269), „Solowezki-“ (S. 269) und „Solewetski“-Inseln (S. 529 Anm. 89) auf, was kein gutes Licht auf die augenscheinlich sehr überhastete Arbeit des Propyläen-Verlagslektors Hans-Ulrich Seebohm wirft. Unzweifelhaft hat Bogdan Musial aber einen wichtigen und zugleich mutigen Anstoß zur weiteren Erforschung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und zur politischen Rolle der Sowjetunion bei der Entfachung jenes Krieges geliefert.

Jürgen W. Schmidt, Oranienburg

Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: Bogdan Musial: Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen. Propyläen Verlag Berlin 2008. ISBN: 978-3-549-07335-3, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt_Musial_Kampfplatz_Deutschland.html (Datum des Seitenbesuchs)