Igor Simbircev Pervaja specslužba Rossii. Taj­na­ja kan­ce­lja­ri­ja Petra I i ee pre­em­ni­ki 1718–1825 [Der erste Geheimdienst Russlands. Die Geheime Kanzlei Peters I. und ihre Vorgänger, 1718–1825]. Izdat. Centrpoligraf Moskva 2006. 399 S. ISBN: 5-9524203-8-9.

Für gewöhnlich lassen Historiker die Geschichte der politischen Geheimpolizei in Russland mit dem 3. Juli 1826 beginnen, als Kaiser Nikolaj I. (1825–1855) die Gründung der III. Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei verfügte. Fast jeder Be­ginn ist eine der Vergangenheit Gewalt antuende Setzung, erzählerisch ein notwendiges Übel, das dialektisch seine eigene Vorgeschichte voraussetzt. Die muss dann stets auch erzählt werden, und so ist die vermeintliche Entdeckung neuer Anfänge meist mit bescheidenem Erkenntnisgewinn verbunden.

Dafür ist das Buch von Igor Simbircev ein Beispiel. Er versucht zu zeigen, dass die Geschichte der russischen Geheimpolizei bereits unter Peter dem Großen begann, genauer gesagt im Jahre 1718, als die »Geheime Kanzlei« (taj­na­ja kan­ce­lja­ri­ja) gegründet wurde. Doch beginnt auch er seine Darstellung wie viele andere Historiker des russischen Geheimpolizeiwesens mit Ivan Groznyj. Das Erbe der opričnina, die „den Dräuenden“ nicht überlebte, sei dann von anderen Behörden angetreten worden, zunächst vom „Taj­nyj Prikaz“ und dann vom „Pre­obra­žen­s­kij Prikaz“. Die Geheime Kanzlei war aber Simbircev zufolge die erste professionelle geheim­polizeiliche Einrichtung des Zarenreiches. Erst sie habe sich durch eine klarere organisatorische Struktur und Hierarchie ausgezeichnet, erst hier habe es eine dauerhafte „Agen­tur“ gegeben, durch die aktiv und effektiv geheimpolizeilich gehandelt werden konnte.

Simbircevs Darstellung ist durch viele Geschichten und Ereignisse angereichert; ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit Petr A. Tolstoj, einem wichtigen Vertrauten Peters, der zugleich eine zentrale Rolle in der Geheimen Kanzlei spielte. Die Geheime Kanzlei erlitt dasselbe Schick­sal wie die opričnina – auch sie überlebte den Herrscher nicht, der sie ins Leben gerufen hatte. Bereits 1726 erfolgte der Auflösungserlass. Simbircev zeigt, welche Behörden die dadurch entstandene Lücke im zarischen Herrschaftssystem ausfüllten. Dabei spannt er den Bogen seiner Erzählung über die Zeit Katharinas der Großen, Pauls I. und Alexanders I. bis hin zum Dekabristenaufstand.

Neues erfährt man in der Sache kaum. Der kurzlebigen Geheimen Kanzlei wird lediglich eine Bedeutung zugeschrieben, die ihr andere Autoren (wie etwa Ronald Hingley The Russian Secret Police. Muscovite, Imperial Russian and Soviet Political Security Operations, 1565–1970. London 1970) nicht zu­messen wollen. Wenn auch nicht wirklich neu ist, was Simbircev präsentiert, so ist zumindest der begriffliche Rahmen, in den er mehr oder weniger Altbekanntes stellt, ungewohnt. Gerade hierin liegt aber auch das größte Problem des Buches. Der Autor nennt die Geheime Kanzlei Russlands er­sten „Geheim-„ oder „Spezialdienst“ (spec­služ­ba, eine Abkürzung für special’naja služba) und behandelt diesen relativ jungen Begriff als zeitübergreifende analytische Kategorie. Schon die opričnina habe Züge eines solchen Geheimdienstes gehabt, und von da aus hätten sich die Nachfolgeorganisationen der Idealform angenähert, die dann in der Geheimen Kanzlei ihre erste Verkörperung fand – so kann und muss man das wohl verstehen. Mit dieser fragwürdigen Rückprojektion erzählt der Autor die Geschichte teleologisch von ihrem Ende her und sucht in der Vergangenheit die Elemente des Gegenwärtigen. Dazu passt, dass mit leichter Hand Vergleiche gezogen und in der Vergangenheit Ežovs und Stalins aufgefunden werden.

Simbircevs Darstellung postuliert gewissermaßen die Geheimpolizei als eine zeitlose Systemstelle jeglicher Herrschaftsform. Um dies zu zeigen, verweist er gerne auf andere europäische Länder, in denen sich ähnliche Institutionen teilweise angeblich schon früher gebildet hätten als in Russland. Preußen wird hier genannt, aber auch das England Heinrichs VIII. Jeder Kenner der deutschen, französischen oder englischen bzw. britischen Polizeigeschichte muss darüber sehr erstaunt sein, zumal man sich dort schon schwer tut, den Begriff „Polizei“ auf vor dem 19. Jahrhundert liegende Zeiten anzuwenden – ganz zu schweigen von dem noch spezielleren der Geheimpolizei.

Was es lange gab, bevor moderne Geheimdienste sie in manchen Ländern zu ihrer exklusiven Hauptaufgabe machten, ist politische Verfolgung. Vielleicht hätte sich dieser Begriff eher als epochenübergreifender Leitbegriff der Untersuchung geeignet. Anstatt die Geheimdienste vormoderner Zeiten zu suchen, wäre es dann etwa möglich gewesen zu fragen, wie die Bekämpfung illegaler bzw. illegalisierter Opposition zu unterschiedlichen Zeiten bewerkstelligt wur­de und gegebenenfalls in welchen institutionellen Formen. So aber kann sich der Rezensent nicht des Eindrucks erwehren, ein eher populärwissenschaftlich plauderndes Werk vor sich zu haben, das zugunsten billiger Effekte und grif­figer Vergleiche auf Erkenntnis Verzicht leis­tet. Dazu passt im Übrigen, dass das Buch keine Quellenverweise und nicht einmal ein Literaturverzeichnis enthält. Dies mag eher der Verlagspolitik als dem Autor anzurechnen sein. Aber auch, wenn man von diesem schweren Ma­kel absieht, ist das Buch nicht als Bereicherung der Forschung anzusehen.

Felix Schnell, Leipzig

Zitierweise: Felix Schnell über: Igor Simbircev Pervaja specslužba Rossii. Tajnaja kanceljarija Petra I i ee preemniki 1718–1825 [Der erste Geheimdienst Russlands. Die Geheime Kanzlei Peters I. und ihre Vorgänger, 1718–1825]. Izdat. Centrpoligraf Moskva 2006. 399 S. ISBN: 5-9524203-8-9., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 1, S. 107-108: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schnell_Simbircev_Pervaja_specsluzba_DF.html (Datum des Seitenbesuchs)