Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 3, S. 431-433

Verfasst von: Felix Schnell

 

Veniamin F. Zima: Čelovek i vlast’ v SSSR v 1920–1930-e gody. Politika repressij. [Mensch und Macht in der UdSSR in den zwanziger und dreißiger Jahren. Die Politik der Repressionen]. Moskva: Sobranie, 2010. 238 S., 5 Abb. ISBN: 978-5-9606-0090-3.

Es gibt viele Bücher über den Terror in der Sowjetunion. Meistens konzentrieren sich die Autoren aber auf die dreißiger Jahre oder sogar nur auf deren zweite Hälfte. Veniamin Zima hat die gesamte Zeit von der Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg in den Blick genommen und ein Buch über Terror und Repression als Prinzipien und Techniken bolschewistischer Herrschaft geschrieben.

Das Herrschaftssystem der Bolschewiki bezeichnet der Autor als despotisches Regime, hält sich aber leider nicht lange mit dem Begriff des Despotismus und seiner Geschichte auf. Theo­retische Unterscheidungen, etwa von „Despotie“ und „Diktatur“, kümmern ihn nicht. Der Despotie-Begriff wird eher metaphorisch als analytisch genutzt und spielt dann auch im Verlaufe des Buches kaum noch eine Rolle. Dennoch ist die Begriffswahl nicht zufällig und oberflächlich. Despotien zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen Despoten haben. Ansonsten gibt es nur rechtlose Untertanen, aus denen sich Günstlinge hervorheben. Aber die persönliche Herrschergewalt erstreckt sich ohne institutionelle Einschränkung auf alle Untertanen ohne Ausnahme. Dem Despoten ist nichts verboten.

Es handelt sich hier um die Extremform personalisierter und persönlicher Herrschaft und genau das ist es, was den Begriff des despotischen Regimes für den Autor so anziehend macht. Denn Veniamin Zima interessiert sich für den menschlichen Faktor in der Diktatur. Terror und Repressionen werden von Menschen angeordnet, durchgeführt und schließlich auch erlitten. Dass diese drei Aspekte in der stalinistischen Sowjetunion oft zusammenfielen, ist ebenfalls ein typischer Zug von Despotien. Man liest bei Zima wenig von Modernisierungszwängen, ökonomischen Notwendigkeiten oder angeblich unvermeidlichen Opfern des Rades der Geschichte – umso mehr aber von den Auswirkungen der Regierungspolitik auf die Gesellschaft. Der Begriff der Despotie ermöglicht es, persönliche Verantwortlichkeit klar aufzuzeigen und zu verorten: bei Stalin und seinen Günstlingen – und er schließt strukturelle und institutionelle Entschuldigen kategorisch aus.

Noch mehr als die Täter interessieren den Autor aber die Opfer. Zima gibt sich Mühe, seine allgemeine Schilderung der Ereignisse jeweils an individuelle Beispiele zurückzubinden. Auf den ersten Blick wirken diese Versuche etwas willkürlich, auf den zweiten Blick aber spiegeln sie eben auch die Vielfalt und Spannweite der Niedertracht im sowjetischen System. Auf der einen Seite finden wir da scheinbar unblutige Kleinigkeiten, etwa wenn die goldene Taschenuhr eines Priesters es einem Funktionär angetan hatte und dieser dem Besitzer einen ungleichen Tausch aufzwingen konnte. Hier zeigt sich im Kleinen das Charakteristikum eines Systems, in dem die einen sich nehmen konnten, was sie zur Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse oder ihrer Gier haben wollten, und die anderen wehrlos waren. Auf der anderen Seite fehlen nicht die Beispiele, in denen Menschen ihre gesamte Habe, ihre Heimat, ihre Angehörigen oder schließlich das Leben verloren. Mit der Auswahl seiner Beispiele will der Autor auch in Erinnerung rufen, dass das „anthropophagische“ Regime kleine wie große Leute traf: so etwa einen kleinen Gewerkschaftsfunktionär und überzeugten Kommunisten, aber schließlich auch einen hochgestellten Funktionär wie Robert Ėjche. Dass gerade in seinem Falle der Autor eine besondere Tragik am Werke sieht, wirkt angesichts von Ėjches Rolle im stalinistischen Terror ein wenig irritierend.

Im Original abgedruckte Trojka-Protokolle und Photodokumente illustrieren die Verbrechen und versuchen, die Opfer „erfahrbar“ zu machen. Die „Whisperers“ von Orlando Figes mögen hier Pate gestanden haben. Aber dem Titel „Mensch und Staat“ zum Trotz findet hier keine konsequente Erzählung aus der Opferperspektive statt – die konkreten Beispiele bleiben reine Illustration.

Im Gegensatz zu anderen Vertretern der neueren russischen Geschichtswissenschaft verzichtet Veniamin Zima auf Anschluss an die westliche Forschung und laufende Kontroversen. Sie werden nur einmal summarisch in der Einleitung genannt und danach nicht weiter erwähnt. Überhaupt verzichtet der Autor auf einen ausführlicheren Anmerkungsapparat und sogar auf ein Literaturverzeichnis. Das mag auf Vorgaben des Verlags zurückzuführen sein, verleiht dem Buch aber ein sowjetisches Flair, das seine Rezeption außerhalb Russlands nicht erleichtern wird. Daran ändert auch die vollmundige Ankündigung des Klappentextes nichts, dass bisher unzugängliche Materialien aus dem FSB-Archiv genutzt worden seien. Es handelt sich bei diesen Quellen nur um wenige Akten, die vor allem die zwanziger Jahren betreffen. Ansonsten stützt sich die Arbeit vor allem auf zugängliche und bekannte Archivalien des Stalin-Fonds.

Wer die westliche Forschung über die zwanziger Jahre und den Stalinismus kennt, wird bei Veniamin Zima nichts Neues finden – weder konzeptionell noch inhaltlich. Man muss aber anerkennen, dass dieses Buch einer Apologie Stalins im Sinne der gegenwärtigen russländischen Geschichtspolitik keinen Vorschub leistet.

Felix Schnell, Berlin

Zitierweise: Felix Schnell über: Veniamin F. Zima: Čelovek i vlast’ v SSSR v 1920–1930-e gody. Politika repressij. [Mensch und Macht in der UdSSR in den zwanziger und dreißiger Jahren. Die Politik der Repressionen]. Moskva: Sobranie, 2010. 238 S., 5 Abb. ISBN: 978-5-9606-0090-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schnell_Zima_Celovek_i_vlast.html (Datum des Seitenbesuchs)

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