Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Dittmar Schorkowitz

 

Gleb S. Lebedev Ėpocha vikingov v Severnoj Evrope i na Rusi [Die Epoche der Wikinger in Nordeuropa und der Rus’]. S.-Peterburg: Izdat. Evrazija, 2005. 639 S., zahlr. Abb., Ktn., Tab. ISBN: 978-5-8071-0179-2.

Dass dieses umfangreiche Werk des bekannten Archäologen und Mediävisten postum erscheinen konnte, ist den Mühen einer sorgfältigen redaktionellen Arbeit am handschriftlichen Nachlass Gleb S. Lebedevs (28.12.1943–15.8.2003) und natürlich dessen intensivem Forscherleben selbst, dessen Ausrichtung sich bereits mit seiner publizierten Dissertation (Ėpocha vikingov v Severnoj Evrope. Istoriko-archeologičeskie očer­ki. Leningrad 1985) abzeichnete, zu verdanken. Hineingewachsen in eine bemerkenswer­te St. Petersburger Schule (Aaron Gurevič, Ele­na Mel’nikova, Tat’jana Džakson, Lev Klejn, Vasilij Bulkin, Aleksander Chlevov u.a.) von Skandinavisten, Slavisten, Historikern, Archäologen und Orientalisten, bot ihm die Synopsis der verschiedenen Fachquellen eine solide und geradezu unerschöpfliche Basis für seine Arbeit über das komplexe Zusammenspiel von normannischen, ostslavischen, baltischen und finnougrischen Einflüssen auf dem Boden der (späteren) Rus’. Das vorliegende Buch, das sozioökonomische wie kulturhistorische Aspekte zum Herrschaftsausbau der Wikinger vom 9. bis zum 11. Jahrhundert insbesondere in Nord- und Osteuropa unter breiter Heranziehung neuerer Literatur auch in westlichen Sprachen behandelt, vermittelt somit die Synthese seines Schaffens und einer lebenslangen Auseinandersetzung mit den Protagonisten des sowjetischen Anti-Normannismus, wenn auch die interdisziplinären Erkenntniszugänge nicht immer in der wünschenswerten Stringenz präsentiert sind.

Das Werk ist in drei Teile gegliedert, von denen der erste sich mit dem Erscheinen der Normannen in Nordwesteuropa befasst (S. 35–64). Die Periode ihrer Dominanz (a. 793–1066) ist in neun etwa gleich lange Etappen und ihre Reichweite in drei Zonen gegliedert, die sich halbkreisförmig von Südskandinavien (Norwegen, Schweden, Dänemark) aus bis 1. nach Nordfriesland, Südengland und Nordirland, 2. Mittelfrankreich und Mähren und 3. nach Südspanien und Nordafrika erstreckten. Die Intensität der Überfälle wird im Kontext der Christianisierung Nordeuropas, der erpressten Loszahlungen und der Vorstöße nach Frankreich, Italien und ins Alte Reich für jede Etappe behandelt, unter denen die fünfte (a. 920–950) für die soziale Organisation eine Zäsur bildet: Während sich die ehedem ‚freien Gefolgschaften‘ landloser Jungmannen (altskandinavisch drengir, altrussisch družina) zunehmend zu ‚Schwurbruderschaften‘ (altskandinavisch váringr → alt­russisch varjag, griechisch βάραγγοι, arabisch varank) transformierten, die sich europaweit als Kampfbünde verdingten, bildeten sich in Skandinavien königszeitliche Strukturen heraus.

Dem folgt im Hauptteil (S. 65–409) eine eingehende Untersuchung zu Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur der Wikinger unter der Fragestellung, welche endogenen Faktoren die so genannte „Bewegung der Wikinger“ verursacht ha­ben. Einer Periodisierung der nördlichen Stein­zeit nach Oskar Montelius und Gordon Childe schließt sich ein vergleichender Abriss zu den bronze- wie eisenzeitlichen Kulturen an, begleitet von einer Übersicht zu den ersten historisch fassbaren Großgruppen (Kimmerer, Teutonen, Goten, Heruler) in West-, Mittel- und Südosteuropa. Mit Blick auf die völkerwanderungszeitliche Epochenwende im 5. Jahrhundert sind hier die agrarwirtschaftlichen Grundlagen, der Warenverkehr von Süd nach Nord, insbesondere der Goldimport ost- wie weströmischer Provenienz sowie das ausgefeilte Waffen- und Schmuckhandwerk breit herausgearbeitet. Die Gesamtschau zur materiellen Kultur illustriert einen wirtschaftlichen Ausbau, der die Entwicklung wikingerzeitlicher Sozialstrukturen verstehen lässt, insbesondere die Aufteilung in eine gemeinschaftliche (leiðangr) und eine elitäre (hirð) königliche Sphäre von Wehrdienst und Heeresorganisation.

Für die Formierung des altrussischen Staates und dessen Anfänge in Alt-Ladoga (Aldeigiuborg ← *Alode-jogi), Novgorod (Holmgarðr), Polock (Pallteskjaborg) und Kiev (Koenugarðr) ist von Bedeutung, dass die ihren Gemeinschaften entfremdeten Jungmannen seit der Mitte des 8. Jahrhunderts als neue Elite seefahrender Krieger und Söldner, so genannter Varäger, damit begannen, auch die Flusssysteme Osteuropas (austrvegr) für den Fernhandel (Silber, Felle, Sklaven) mit dem Mittleren Osten sowie Byzanz zu nutzen und dabei an strategischen Stellen (Emporien) Herrschaften zu errichten. Dieses Gründungs- und Besiedlungsthema wird im Schlussteil (S. 410–596) mit dem bereits fortgeschrittenen Ausbau der poljanischen Herrschaft in der Kiever Rus’ (kaganat rusov) und umfangreichen Dirhamhorten des frühen 9. Jahrhunderts in Verbindung gebracht. Hierbei treten die unterschiedlichen Entwicklungsparameter – Abgrenzung, Tributpflicht und Außenhandel (Chasaren, Byzanz) in der südlichen Rus’ beziehungsweise Kolonisation, Assimilation und Binnenhandel (Skandinavier, Finnougrier, Wolga-Bulgaren) bei den nördlichen Slovenen – deutlich hervor.

Natürlich bergen Synthesen, welche die Entstehung des altrussischen Staates aus einer Gesamtschau wikingerzeitlicher Phänomene und deren Folgeentwicklungen darzustellen versuchen, die Gefahr interpretatorischer Überdehnung des Quellenmaterials (onomastisch, archäologisch, historisch), auch wenn dieses – wie mustergültig bei Gleb S. Lebedev – systematisch aufeinander bezogen wird. So wird man sich beispielsweise fragen, ob die bisherige Vorstellung zum Kiever Duumvirat in vorrjurikidischer Zeit nun in der Tat als veraltet gelten muss und ob die Herrschaft Dirs derjenigen Askol’ds wirklich voranging. Doch bietet solch ein vergleichendes Panorama eben auch die Möglichkeit einer objektiveren Positionierung regionaler Prozesse, die bei der Integration Europas im Mittelalter zusammengewirkt haben.

Dittmar Schorkowitz, Halle/Saale

Zitierweise: Dittmar Schorkowitz über: Gleb S. Lebedev Ėpocha vikingov v Severnoj Evrope i na Rusi [Die Epoche der Wikinger in Nordeuropa und der Rus’]. Izdat. Evrazija S.-Peterburg 2005. ISBN: 978-5-8071-0179-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schorkowitz_Lebedev_Epocha_vikingov.html (Datum des Seitenbesuchs)

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