Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 113-114

Verfasst von: Gottfried Schramm

 

Drevnejšie gosudarstva Vostočnoj Evropy. 2010 god: Predposylki i puti obrazovanija Drevnerusskogo gosudarstva [Die ältesten Staatsbildungen Osteuropas. 2010: Voraussetzungen und Entstehungswege des altrussischen Staates]. Otv. red. Elizaveta A. Mel’nikova. Moskva: Russkij fond Sodejstvija Obrazovaniju i Nauke, 2012. 710 S., Tab., Abb. ISBN: 978-5-91244-092-2.

Die 18 Beiträge dieses Sammelbandes streuen weit – über die lange Zeitspanne vom 8. bis zum 13. Jahrhundert und über den Riesenraum der Kiever Rus, ohne dass die Fülle durch eine genauer definierte Fragestellung und eine methodische Ausrichtung zusammengehalten würde. Herausgekommen ist ein bunter Flickenteppich, wobei naturgemäß vieles Wichtige unabgedeckt bleibt. Am dichtesten beieinander erscheinen Aufsätze, die den Umländern der Reichsachse Dnjepr gewidmet sind. Dagegen bleiben die historisch besonders wichtigen – und weniger bekannten! – Außenflanken weitgehend ausgeblendet: im Westen die durch ihre Aufsässigkeit einzigartigen Derevljanen und im Südosten jene vorgeschobene Bastion Tmutorokań am Ausgang des Asowschen Meeres, die hochgestellten Mitgliedern der Dynastie anvertraut zu werden pflegte, was ihre hohe Bedeutung für das Reich sichtbar macht.

Auch vom Ausgreifen der Rus bis zum Eismeer, das nur mit feinen Pinzetten rekonstruiert werden kann, ist nicht die Rede. Das ist gerade deshalb erstaunlich, weil im Redaktionskollegium des Bandes erprobter skandinavistischer Sachverstand gleich in Gestalt von drei Personen vertreten ist und man sich hier die Chance entgehen ließ, den Wert ihrer Expertise für eine Rekonstruktion der frühen Rus vorzuführen. Verwunderlich weiterhin, dass der umfangreiche Band jeden Index vermissen lässt, den man als Kompass durch die verwirrende Vielfalt von 18 Beiträgen dringend gebraucht hätte.

Das Vorwort von Elizaveta A. Mel’nikova zeichnet die bewegte Forschungsgeschichte zur Kiever Rus seit der von Stalin 1936 verordneten Wende mit so zartem, gleichsam äsopischem Pinsel nach, dass man mit der Sache schon tiefer vertraut sein muss, um ihr folgen zu können. In diesem Forschungsrückblick fehlt meine umfangreiche Gesamtschau, die 2004 unter dem Titel „Altrußlands Anfang“ erschien. Sie wird auch sonst  im rezensierten Band mit keinem Wort erwähnt, dabei handelt es sich um die bisher ausführlichste Synthese zum gewählten Thema, die in der einzigen in Russland erschienenen Rezension vernichtend abgekanzelt wurde. Ein Text von 2012 hätte auf diesen strittigen Fall unbedingt eingehen müssen.

Warum hat sich Elizaveta A. Mel’nikova in ihren idyllischen Schlupfwinkel zurückgezogen, obwohl sie von höherer Stelle in der Akademie-Hierarchie in skandalöser Weise gemaßregelt worden ist? Ihr, die als Skandinavistin angefangen hat, wurde – sage und schreibe – jede Kompetenz für altrussische Texte abgesprochen. Nun, es ist nicht jedermanns Sache, auf unkollegiale Angriffe einzugehen. Aber in der von Elizaveta A. Mel’­ni­ko­va geleiteten Akademie-Abteilung, die für die Außenbeziehungen der Kiever Rus zuständig ist, gab es wohl noch einen anderen Grund fürs Stillhalten, auf den uns der eigentümliche Reihentitel hinweist. Unser Sammelband setzt nämlich die in unregelmäßiger Abfolge erscheinenden Referate fort, die im Rahmen von Gedenkveranstaltungen zu Ehren von Vladimir T. Pašuto gehalten werden. Diese fortdauernde Pietät zeigt, dass sich dessen Gefolgsleute von einst noch immer nicht vom Geist ihres Gründervaters emanzipiert haben.

Das schlägt bis auf den verunglückten Titel der Veröffentlichungsserie durch. Denn der hält fest, was Pašuto für die frühe Geschichte von Europas Ostrand behauptet hatte: die Organisation der Stämmewelt in Reichen, wenn nicht gar Staaten. Das sollte es durchaus regelgerecht erscheinen lassen, dass – getreu der antinormannistischen Doktrin – es am mittleren Dnjepr schon längst, bevor Normannen auf den Plan traten, eine mächtige Rus gegeben habe. Diese Zwecklegende konnte spätestens seit Vasilij O. Ključevskij und Vilhelm Thomson als wissenschaftlich widerlegt gelten, wurde aber von Stalin 1936 zur verpflichtenden Doktrin erhoben. Seit Beginn unseres Jahrtausends ist in Russland wieder mit hörbarem Knirschen der Rückwärtsgang eingelegt worden.

Der Kreis um Pašutos Nachfolgerin, Elizaveta A. Mel’nikova, hat den seit der Jahrtausendwende mit Macht erfolgten Rückschwenk zwar nicht mitgemacht, aber wo der Meister von einst noch immer Schatten wirft, ist auch nicht zu erwarten, dass man sich mit ihm und seinen antinormannistischen Gesinnungsgenossen kritisch auseinandersetzt.

Der Rezensent las den rezensierten Band als Spiegel einer Forschungssituation, in der sich eine kleine Minderheit in einen beschaulichen Winkel zurückgezogen hat, in dem sie die hochschlagenden Wellen vorbeiziehen kann. Die Voraussetzung und die Wege der Ausbildung des „altrussischen Staates“ möchte die Aufsatzsammlung klären. Genau dieses anspruchsvolle Ziel wird nicht einmal angegriffen. Schade!

Vorläufig will es scheinen, als sei die große russische, in Vasilij O. Ključevskij um 1900 gipfelnde Historiographie abgerissen, die gezeigt hatte, dass die Riesendimensionen der mittelalterlichen Rus nicht aus bodenständigen Wurzeln hergeleitet werden kann. Vielmehr waren es normannische Krieger und Bootsfahrer, die das ausgefächerte Flusssystem an Europas Ostrand dafür nutzbar machten, genügend Waren für ferne Märkte einzusammeln. Die Pfeiler dieser denkwürdigen Reichsgründung um 900 waren nicht etwa die eingesessenen Volksstämme, die schon bald völlig aus der schriftlichen Überlieferung verschwanden, sondern befestigte Stützpunkte, aus denen das russische Städtenetz hervorgehen sollte.

Mein Fazit klingt wehmütig: Im Augenblick scheint ein kostbares Erbe russischer Geschichtsschreibung verwaist. Aber Russland ist groß und hat viele Gesichter. Irgendwo und irgendwann wird man dort weitermachen, wo Vasilij O. Ključevskij aufgehört hat.

Gottfried Schramm, Freiburg im Breisgau

Zitierweise: Gottfried Schramm über: Drevnejšie gosudarstva Vostočnoj Evropy. 2010 god: Predposylki i puti obrazovanija Drevnerusskogo gosudarstva [Die ältesten Staatsbildungen Osteuropas. 2010: Voraussetzungen und Entstehungswege des altrussischen Staates]. Otv. red. Elizaveta A. Mel’nikova. Moskva: Russkij fond Sodejstvija Obrazovaniju i Nauke, 2012. 710 S., Tab., Abb. ISBN: 978-5-91244-092-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schramm_Drevnejsie_gosudarstva_2010_god.html (Datum des Seitenbesuchs)

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