Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  575–576

David Kirby A Concise History of Finland. Cambridge University Press Cambridge, New York 2006. XV, 343 S., 40 Abb., 5 Ktn., 3 Tab. = Cambridge Concise Histories, [17]. ISBN: 978-0-521-53989-0.

Nach seiner zweibändigen Synthese zur Geschichte des Ostseeraums „The Baltic World“ (1995) hat Kirby, Professor für Neuere Geschichte an der School of Slavonic and East European Studies am University College London, dieses Überblickswerk vorgelegt.

Will man nicht mit Topelius bestreiten, dass Finnland eine Geschichte hat, die vor die Entstehung des autonomen Großfürstentums im Jahr 1809 zurückreicht, stellt sich für jeden Autor die Frage der Proportionen. Der vom Umfang her mit Kirby vergleichbare, ebenfalls in einer – neubearbeiteten und aktualisierten – englischen Ausgabe greifbare und für den Weltmarkt gedachte Klassiker von Eino Jutikkala und Kauko Pirinen (Eino Jutikkala, Kauko Pirinen A History of Finland. 6th English edition. London, Westport CT, 2003) weist eine Aufteilung von fast 60 % des Umfangs für die Zeit vor 1809, von einem Viertel für die Zeit der Autonomie und einem Zehntel bis 1944 auf, so dass die jüngste Geschichte fast ein Epilog ist. Kirby setzt die Proportionen völlig umgekehrt. „Medieval marshlands“ und „Swedish legacy“ werden im ersten Fünftel abgehandelt, so dass für die übrigen drei Perioden jeweils ein gutes Viertel bleibt. Er ist damit noch gegenwartsbetonter als Henrik Meinanders gleich alte Darstellung (Henrik Meinander Finlands historia: linjer, strukturer, vändpunkter. Helsinki 2007), wo die Periode von 1917 bis 1944 zugunsten der schwedischen Zeit (fast zwei Fünftel!) recht knapp gehalten wird. Kirbys Periodisierung „– 1780 – 1860 – 1907 – 1939 – 1956 –1981 – “ erscheint etwas gewollt, erhält aber ihre Ratio durch seinen Blickwinkel, der die innere Entwicklung Finnlands und die Kontinuitäten der Faktorengeflechte über die äußeren Zeitgrenzen hinweg fokussiert.

Für eine „kurze Geschichte“ ist Kirbys Darstellung ungeheuer detailliert und differenziert. Man lese nur die spannende Darstellung der Zeit von 1825 bis 1855, früher als „politische Nacht“ fast übergangen, in der er den modus vivendi zwischen „bürokratischem Patriotismus“ und erwachendem liberalen Konstitutionalismus erklärt, der das Geheimnis der gedeihlichen Emanzipation der Autonomie im Gegensatz zu den Katastrophen in Polen verständlich macht. Man vergleiche seine ausführliche Kontrastierung der offiziösen Finnischen Literaturgesellschaft in Helsinki mit der gleichnamigen, volksnahen Gesellschaft in Wiborg einerseits mit den gängigen, gradlinigen „Erfolgsgeschichten“ des finnischen nationalen Erwachens andererseits. All das geschieht knapp, aber anschaulich und verständlich. Diese Detaillierungen nimmt Kirby offenbar in voller Absicht vor, denn er verfolgt den Ablauf der finnischen Geschichte vor allem als den eines komplexen und spannenden Prozesses innerhalb der Gesellschaft. In kaum einer anderen Überblicksdarstellung werden die großen Ereignisse der Weltgeschichte so wenig für Finnlands Schicksal als Erklärung herangezogen und andererseits die Bruchlinien und die Kraftkonvergenzen im Inneren so konsequent in ihrem Entstehen aufgezeigt und verfolgt. Wieder bietet sich als Vergleich Meinander an, bei dem die Teile mehrheitlich einen internationalen Bezug in den Überschriften haben und fast jeder ein „internationales“ Kapitel aufweist.

Immer wieder ist man erfreut, wie genau Kirby Vorgänge beleuchtet – das wiegt die wenigen Unschärfen voll auf (Alexander Armfelt war von Anfang an für eine laizistische Volksschule, die finnische Mark wurde erst 1865 genehmigt).

Die 40 schwarz-weißen Abbildungen erhellen gerade die früheren Stadien der Geschichte Finnlands anhand von heute noch sichtbaren Relikten, und aus den letzten 200 Jahren sind schlaglichtartig erklärende Karikaturen oder Sze­nen herangezogen; sie geraten freilich am Ende des Buches aus dem chronologischen Takt. Zusammen mit den ausführlichen Bild­unter­schriften erfüllen sie eine ähnliche Funktion wie die prägnanten Zitate bei Jutikkala. (Wer sich das gemerkt hat, hat schon sehr viel verstanden.) Ergänzend folgt eine detaillierte Zeittafel sowie eine Grafikreihe der Parlamentswahlergebnisse seit 1907. Sorgfältig gearbeitet und durch Unterschlagwörter leserfreundlich gestaltet ist der integrierte Personen-, Orts- und Sachindex. Freilich hätte man die Namensformvielfalt durch Verweisungen abfangen sollen. Die klaren Karten haben Stärken und Schwächen. Die Karte des schwedischen Reichs im Mittelalter weist schon durch ihren Ausschnitt Finnland nicht als Peripherie sondern als das östliche Reichskerngebiet aus. Wegen der berechtigten Zweifel der neuesten Forschung an einer echten Grenzziehung 1323 die Nöteborgsgrenze auszublenden, verdunkelt aber die Rolle Novgorods für Finnland. Da in der Karte über den Fortsetzungskrieg von 1941–1944 die deutsche Ostfront nicht eingezeichnet ist, gerät der finnische Anteil an der Belagerung Leningrads aus dem Blickfeld.

Der Bibliographie („Guide to further reading“) sind – durch die offenbar vom Format der Serie vorgeschriebene Beschränkung auf englischsprachige Titel – die Flügel gestutzt. Es ist schade, dass Kirby die neueste finnische Forschung nicht nennen kann, die er so souverän einfließen lässt; wenigstens die Nennung von „Suomen historiallinen bibliografia“ und ihrer Fortsetzung in der Datenbank „Artos“ sollte ein Fenster (auch zu zahlreichen weiteren englischen Titeln) öffnen. Wie viel treffsicherer ist z.B. die Auswahl, die Edgar Hösch in seiner finnischen Geschichte (Edgar Hösch Kleine Geschichte Finnlands. München 2009) bei nur halb so viel Platz und ohne Sprachbeschränkung getroffen hat!

Kirbys „kurze Geschichte“ ist – trotz dieses Titels – ein umfang- und faktenreiches, klug geschriebenes Werk und macht wie keine Darstellung zuvor in einer Weltsprache deutlich, dass der besondere Weg Finnlands durch seine Geschichte als „Newcomer State“ auf ein Erfolgsniveau etwa der Vereinigten Staaten, aber unter viel ungünstigeren geographischen und geopolitischen Voraussetzungen, auf einem ungeheuer differenzierten und glücklich verwobenen Geflecht von Faktoren beruht, die sich hier in oft einzigartiger Weise ergänzten, verstärkten oder auch neutralisierten.

Robert Schweitzer, Lübeck

Zitierweise: Robert Schweitzer über: David Kirby A Concise History of Finland. Cambridge University Press Cambridge, New York 2006. XV, = Cambridge Concise Histories, [17]. ISBN: 978-0-521-53989-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 575–576: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schweitzer_Kirby_Concise_History_of_Finland.html (Datum des Seitenbesuchs)