Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 130-131

Verfasst von: Anti Selart

 

Tatjana Niemsch: Reval im 16. Jahrhundert. Erfahrungsräumliche Deutungsmuster städtischer Konflikte. Frankfurt a.M. [etc.]: Lang, 2013. LX, 207 S., 5 Abb. = Kieler Werkstücke. Reihe G: Beiträge zur Frühen Neuzeit, 6. ISBN: 978-3-631-62770-9.

Die Kieler Dissertation thematisiert die frühneuzeitlichen Konfliktsituationen in der Stadt Reval (estnisch: Tallinn) im Rahmen des theoretischen Konzepts von Erfahrungsräumen. Das Ziel der Arbeit ist es,den Einfluss erfahrungsräumlicher Hintergründe von Konfliktakteuren auf die Entstehung, den Verlauf und die Bewältigung von Konflikten zu erkennen und darzulegen(S. 23). Der theoretische Rahmen der Untersuchung wird mithilfe von zahlreichen Autoritäten von Newton und Leibniz bis zu Bourdieu und Derrida, um hier nur einzelne Namen zu erwähnen, umfangreich dargelegt. Dem Leser werden die Grundzüge der Geschichte der Stadt, ihrer Topographie und zweier zentraler Geschehnisse des 16. Jahrhundertsder Reformation und des Wechsels des Landesherrn – präsentiert. Besonders ist in diesem Zusammenhang positiv hervorzuheben, dass die Verfasserin nicht zu denjenigen deutschen Geschichtsforschern gehört, die nach Eugen von Nottbeck (1842–1900), Wilhelm Neumann (1849–1919) und bestenfalls noch Paul Johansen (1901–1965) keinen jüngeren Stadthistoriker Revals kennen. Der Überblick der Stadtgeschichte basiert jedoch teils auf eher an Touristen gerichteten Kurzdarstellungen, teils auf allgemeinen Lehrbüchern und vermittelt so neben vielen Fehlern und Missverständnissen manchmal auch schon längst veraltete Vorstellungen. Es seien hier nur ein paar Beispiele für die doch allzu zahlreichen Fehler genannt: Die Stadt wird nach heutigem Kenntnisstand nicht 1154, sondern erst 1219 erstmals in den schriftlichen Quellen erwähnt. Die von Paul Johansen genannte Revaler Hakenzahl im 13. Jahrhundert (S. 78) bezieht sich auf die Landschaft und nicht auf die Stadt (Haken stellten rein bäuerliche Besteuerungseinheiten dar). Auch ist „bei Smolina(S. 89) nie ein russisch-livländischer Frieden geschlossen worden. Für sich betrachtet handelt es sich hier um Kleinigkeiten, insgesamt demonstrieren diese Fehler aber, dass die Verfasserin die allgemeine Geschichte ihres Untersuchungsobjekts doch eher nur oberflächlich kennt, so dass sie die Qualität der von ihr benutzten Darstellungen kaum endgültig bemessen konnte.

Diestädtischen Konflikteselbst machen ca. 80 Seiten, also etwa ein Drittel des Gesamtumfanges des Bandes, aus. Es handelt sich um Fallstudien, die weitgehend auf eigener Archivforschung basieren, zu Kurzdarstellungen über die städtischen Erfahrungsräume erweitert wurden und entsprechend der stadttopographischen Zugehörigkeit der Akteure in Unterkapitel gegliedert sind. Thematisiert werden Streitigkeiten zwischen den Einwohnern der eigentlichen Stadt und des Dombergs um verschiedene Rechte und Vorrechte, die städtische Reformation in ihrem Bezug zum Landesherrn und Bischof sowie der Machtwechsel im Jahr 1561, als die Stadt sich von der Deutschordensherrschaft löste und sich dem König von Schweden unterwarf.

Konflikte zwischen Akteuren der Unterstadtbetreffen Bauregulationen, Versuche des Magistrats, im Interesse der Bürger denVorkaufzu beschränken, und wiederum die städtische Reformation, wobei in Reval der Konflikt zwischen dem Rat und den Dominikanern eine zentrale Rolle spielte. Der Konvent wurde aufgehoben, aberlangfristig führte die schnelle Umsetzung der Reformation in Reval nicht zu der Einheit […], da auch die Reformation bereits bestehende Gegensätze nicht überkam(S. 162). Den dritten Fragenkreis bilden die Gegensätze zwischen Akteuren der Stadt und dem Umland. Hier stehen die Konflikte um die Handelsrechte der Adligen und der Bauern sowie die Problematik der sogenannten Läuflinge, also der in die Stadt gezogenen schollenpflichtigen Bauern, deren Auslieferung von ihren bisherigen Gutsherren gefordert wurde, im Mittelpunkt. Im Zusammenhang mit der Reformation werden die Beziehungen zwischen der Stadt und dem adligen Zisterzienserinnenkloster thematisiert. Zusätzlich präsentiert die Verfasserin die Thematik von Handel und Piraterie.

Leider konnte die Autorin in ihrer Dissertation – aus verständlichen Gründendie erst vor kurzem (2012) publizierten Forschungsergebnisse von Tiina Kala nicht diskutieren. Diese weist darauf hin, dass der Terminusundeutschin den Revaler mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen überwiegend Bauern, nicht aber die städtischen Esten bezeichnet. Diese Beobachtung könnte die Grenzen zwischen dem ‚Städtischen‘ und dem ‚Nicht-Städtischen‘ anders definieren, als sie von Tatjana Niemsch in der hier rezensierten Arbeit angenommen worden sind.

Der Autorin ist es insgesamt gelungen, die verschiedenen Aspekte des Verhaltens der Akteure in den städtischen Konflikten erfolgreich zu analysieren. Sie betont, dass angesichts einer gemeinsamen Bedrohung von außen wie beispielsweise seitens der russischen Truppen während des Livländischen Krieges 1558–1582/1583 die sozialen und rechtlichen Grenzen zwischen den „Erfahrungsraumgruppenüberwunden wurden, dass eine solcheKonstitutionaber immer nur kurzfristig wirkte (S. 199). Hervorgehoben wird, dass der Revaler Magistrat in Bezug auf den Landesherrn, den Deutschen Orden, starke Positionen innehatte, die letztendlich 1561 zum Ungehorsam und zur Akzeptanz des neuen Landesherrn führten. Die Zugehörigkeit zu Erfahrungsräumen habe in Reval nicht nur die Konfliktbewältigung erschwert, sondern auch konfliktfördernd gewirkt.

Im Rahmen der Traditionen der Erforschung der Revaler Geschichte handelt es sich um einen innovativen methodologischen Ansatz, der jedoch, wie die Verfasserin es auch betont, die bisherigen Betrachtungsweisen keineswegs ersetzen soll, sondern eher ergänzen will. Somit hat die Monographie ihre Aufgabe auch erfüllt.

Anti Selart, Tartu

Zitierweise: Anti Selart über: Tatjana Niemsch: Reval im 16. Jahrhundert. Erfahrungsräumliche Deutungsmuster städtischer Konflikte. Frankfurt a.M. [etc.]: Lang, 2013. LX, 207 S., 5 Abb. = Kieler Werkstücke. Reihe G: Beiträge zur Frühen Neuzeit, 6. ISBN: 978-3-631-62770-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Selart_Niemsch_Reval_im_16_Jahrhundert.html (Datum des Seitenbesuchs)

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