Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 483-485

Verfasst von: Anti Selart

 

Paul Srodecki: Antemurale Christianitatis. Zur Genese der Bollwerksrhetorik im östlichen Mitteleuropa an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Husum: Matthiesen, 2014. 532 S., 14 Abb., 1 Kte. = Historische Studien, 508. ISBN: 978-3-7868-1508-2.

Im Zentrum der Gießener, von Hans-Jürgen Bömelburg betreuten Dissertation liegen vor allem die mit Polen und Ungarn verbundenen Quellen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die den bekannten Antemurale-Christianitatis-Topos präsentieren. Neben den publizierten Quellen und alten Drucken werden auch einige Archivmaterialien einbezogen, die in der Einleitung eher knapp beschrieben sind. Zur Einführung werden vom Verfasser Verbindungslinien zwischen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rhetorik und der „Krise“ in der Ukraine 2014 gezogen. Statt „Krise“ gibt es da jedoch einen Krieg, ein Staat hat Teile eines anderen gewaltsam besetzt – und auch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit handelte es nicht nur um Feindbilder, sondern auch um wirkliche Kriege und Annexionen. Es wurde damals ebenso nicht nur auf Pergament und Papier, sondern auch auf den Schlachtfeldern und vor Festungen gekämpft. Der Verfasser führt die politische Instrumentalisierung der diplomatischen Rhetorik und ihre Verbindung mit den ereignisgeschichtlichen Entwicklungen vorbildlich vor; nicht nur im Feld der Beziehungen zwischen den Herrschern sondern zum Beispiel auch im Kontext der inneren sozialen und politischen Verwicklungen der frühneuzeitlichen „Adelsrepublik“ Polen. Dass aber beispielsweise die osmanische Invasion in Südosteuropa oder die langdauernden Kämpfe zwischen den Großfürstentümern Litauen und Moskau auch ein Faktum waren, kann vor diesem Hintergrund oft vergessen werden.

Die Darstellung ist sehr breit aufgebaut. Eigentlich fängt sie sogar mit den neolithischen Schutzwällen an. Als „Pionier der Bollwerksrhetorik“ wird der Deutsche Orden gründlich thematisiert. Gleichzeitig finden sich leider in diesen Teilen der Monographie, die inhaltlich vom eigentlichen Kern der Untersuchung etwas entfernt liegen, nicht wenige kleinere Ungenauigkeiten bzw. es werden gelegentlich Meinungen wiederholt, die in der speziellen Literatur schon längst als überholt gelten. Weder war der Chronist Heinrich von Lettland Augustinermönch noch gab es im Jahr 1207 ein Erzbistum Riga, das „in den Reichsverband aufgenommen“ worden konnte. Auch ist es sicherlich nicht korrekt, Livland und Preußen insgesamt mit dem Deutschen Orden gleichzusetzen. Dennoch ist der Text auch mit den jüngeren relevanten Publikationen gründlich belegt. Für das eigentliche Thema des Buches wäre nicht zuletzt die in letzter Zeit besonders von Iben Fonnesberg-Schmidt sorgfältig bearbeitete Frage von Bedeutung gewesen, in welchem Umfang die Päpste (die päpstliche Kanzlei) in ihren Briefen und Urkunden vom Sprachgebrauch der Supplikanten abhängig waren.

Weitere Wurzeln der Schutzwall-Rhetorik sieht der Autor in den zeitgenössischen ost- und ostmitteleuropäischen Darstellungen des Mongolensturmes im 13. Jahrhundert. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Orden und dem Königreich Polen im 15. Jahrhundert haben die Übernahme des Topos durch die polnische Diplomatie begünstigt. Gerade Polen und Ungarn sind dann im 15.17. Jahrhundert als die antemuralia des (west-) christlichen Europa par excellence angepriesen worden. Das Thema ist dann auch in die Herrschaftslegitimation des ungarischen Königs Matthias Corvinus einbezogen worden. Keine unwesentliche Rolle spielten dabei die italienischen humanistischen Gelehrten, die oft an den Herrscherhöfen des Raumes angestellt waren und als „supranationale Trägerschichten“ von Topoi wirkten. Hier hebt der Verfasser neben Enea Silvio Piccolomini und vielen anderen besonders Filippo Buonaccorsi hervor. Gerade um 1500 habe eine „Verdichtung“ des antemurale-Begriffs in der diplomatischen Sprache stattgefunden. Gleichzeitig wurde das Bild europaweit mithilfe des Buchdrucks verbreitet, so dass es sich als ein Gemeinplatz des geographischen und politischen Wissens etablierte. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ging die führende Rolle bei Verbreitung und Rezeption der Vormauerrhetorik an die Jesuiten über.

Es ist dem Verfasser gelungen, aufgrund des sehr umfangreichen Korpus an zeitgenössischen Quellentexten die historische Entwicklung und den Facettenreichtum des Bollwerkstopos seit dem hoch- und spätmittelalterlichen Kreuzzugwortschatz vorzuführen. In der Zusammenfassung wird auch die eigene Forschungsleistung überzeugend betont. Der Autor hebt mit Recht hervor, dass die allegorische Darstellung des eigenen Landes als antemurale ein gesamteuropäisches Phänomen ist, das auch auf den Iberischen Halbinsel und anderswo zu finden ist. Umso fragwürdiger ist, ob zum Beispiel zwischen dem frühneuzeitlichen polnisch-ungarischen Bollwerkstopos und dem ähnlich klingenden Wortschatz, der in Nazi-Deutschland verwendet wurde, eine genetische Verbindung besteht. Wohl wäre es dem Buch zugutegekommen, wenn die sehr weit ausgreifenden einleitenden Kapitel und die bis ins 21. Jahrhundert hineinreichenden zusammenfassenden Exkurse einem stärkeren Streben nach Verallgemeinerung und Synthese geopfert worden wären. Dies hätte die Originalität dieser Forschungsarbeit noch erhöht und die oben erwähnten kleinen Ungenauigkeiten wären vermieden worden.

Ein nicht zu unterschätzender Wert der Publikation liegt darin, dass hier Quellenmaterial vom enormen Umfang gesammelt, sorgfältig bibliografiert und systematisch aufbereitet wurde. Das Literaturverzeichnis auf 130 (!) Seiten ist eine Errungenschaft an sich, das in Zukunft bestimmt oft konsultiert werden wird. Das Namensregister erleichtert die Benutzung der informationsreichen Monographie.

Anti Selart, Tartu

Zitierweise: Anti Selart über: Paul Srodecki: Antemurale Christianitatis. Zur Genese der Bollwerksrhetorik im östlichen Mitteleuropa an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Husum: Matthiesen, 2014. 532 S., 14 Abb., 1 Kte. = Historische Studien, 508. ISBN: 978-3-7868-1508-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Selart_Srodecki_Antemurale_Christianitatis.html (Datum des Seitenbesuchs)

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