Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 1, S. 128-130

Verfasst von: Clemens P. Sidorko

 

Christian W. Dettmering: Russlands Kampf gegen Sufis: Die Integration der Tschetschenen und Inguschen ins Russische Reich 18101880. Dryas, Oldenburg, 2011. 384 S., Ill., Ktn. ISBN 978-3-940855-17-6.

Weshalb ließen sich die Inguschen vergleichsweise problemlos in das Zarenreich integrieren, die benachbarten und eng verwandten Tschetschenen jedoch nicht? So lautet die Grundfrage anzuzeigender Schrift, die in Form einer Fallstudie Einblick in die Entstehung bzw. Vermeidung von Konflikten im Grenzraum christlich geprägter Staaten und mehr oder minder islamisierter akephaler Völkerschaften geben will. Herkömmliche Argumente, beispielsweise dass Staaten und Clan-Gesellschaften inkompatibel seien oder dass religiöse bzw. soziale Faktoren im Fall der Tschetschenen eine Annäherung verhindert hätten, greifen zu kurz, da sich die Inguschen hier nur partiell unterscheiden.

Diese Prämissen werden im Vorwort des Buchs herausgearbeitet. Propädeutischer Natur sind auch die folgenden Kapitel: Nach einer ausführlichen Diskussion von Quellen und Fachliteratur werden „Land und Leute“ sowie „religiöse und ethnische Strukturen“ vorgestellt (Kap. II–IV).

Bereits hier zeigt sich, wie problembeladen die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas oft war und wie mythenbildend sie wirkte. Hoch spannend lesen sich z.B. Dettmerings Abschnitte zur Sozialstruktur der beiden vainachischen Völker: Darin unternimmt er nichts weniger als eine kritische Revision des sowjetzeitlichen Modells von M. A. Mamakaev, auf dem fast alle spätere Literatur zum Thema fußt, obwohl bekannt war, dass sein Schöpfer Forschungsergebnisse amerikanischer Ethnologen zu den Irokesen beinahe ungefiltert auf die Tschetschenen übertrug. Da autochthone Quellen nahezu fehlen, diskutiert Dettmering Verwandtschafts- und Siedlungssysteme wie Mehrfamilienhaushalt, Maximal Lineage, Clan, Dorf, Territorialunion etc. am überkommenen Corpus der Berichte westeuropäischer Forschungsreisender des 18. und 19. Jahrhunderts sowie der frühen russländischen Ethnologie. Durch Vergleich, zuweilen auch durch das kräftige Gegen-den-Strich-Bürsten jener Zeugnisse, gelingt dem Autor nicht nur der Entwurf eines alternativen Modells, sondern auch die Rekonstruktion von Veränderungen innerhalb des gewählten Zeitfensters.

Nicht ganz so stimmig sind m.E. manche Aussagen zu den religiösen Strukturen: Entgegen der vorherrschenden Forschungsmeinung versucht Dettmering nachzuweisen, dass die „religiöse Identität“ der Tschetschenen bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchgängig vom Islam bestimmt gewesen sei. Es ist aber nicht einzusehen, wieso synkretistische Elemente und das weitgehende Fehlen eines fiqh-Islam kein Beleg für eine schwache Islamisierung der Tschetschenen um 1800 sein sollen (S. 87 f.), wenn die gleichen Merkmale bei den Inguschen bezeugen, dass sie damals noch keine Muslime waren (S. 92 f.). Auch das Vorgehen, die Mehrheit zeitgenössischer Beobachter durch eine einzige abweichende Stimme zu widerlegen, halte ich für wenig beweiskräftig.

Der Hauptteil des Buches (Kap. V–IX) analysiert in zeitlicher Abfolge die Anbindung der vainachischen Völker an das Zarenreich. Gut nachvollziehbar ist die Wahl des Zeitrahmens: Er reicht von der ersten vertraglichen „Unterwerfung“ der Inguschen unter den Zaren 1810 sowie der Vorschiebung des Wehrsystems der Kaukasischen Linie auf tschetschenisches Siedlungsgebiet 1816 über den Kaukasuskrieg (1830–1864) und die friedliche Phase vor dem Aufstand von 1877/78 bis zum Jahr 1880, als es im Nordkaukasus, nicht zuletzt im Gefolge des Anschlusses an das russische Bahnnetz und der Entdeckung von Ölvorkommen, zu beträchtlichen administrativen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen kam.

Die Studie zeigt schlüssig auf, dass in erster Linie eine falsche Einschätzung der russischen Behörden verantwortlich war für die Politik gegenüber Tschetschenen und Inguschen und somit auch für alle weiteren Entwicklungen. Bereits frühzeitig nämlich konzipierte die koloniale Verwaltung beide Ethnien als Gegenbilder: Legte man den Tschetschenen stets die Attribute „islamisch, räuberisch und feindlich“ zu, galten die Inguschen als „animistisch, friedfertig und (daher) prorussisch“. Dettmerings Überprüfung ergibt, dass keine dieser Zuweisungen durchgängig haltbar ist, dass ihre Summe aber in der Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wirkte. Kernpunkt des ablehnenden Verhältnisses der zarischen Regierung blieb dabei stets das Bekenntnis zum Islam: Beispielsweise galten Razzien und Überfälle der Kaukasier dann als gefährlich, wenn sie von Muslimen ausgeführt wurden, während jene nichtmuslimischer Gruppen als behebbarer Mangel an Zivilisation abgetan wurden. Einmal auf dieses Gleis geraten, änderte sich die Beurteilung paradoxerweise selbst dann nicht mehr, als die Inguschen im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehrheitlich den Islam annahmen. Genau an diesem Punkt geriet ihr bis dahin recht glatt verlaufender Integrationsprozess allerdings prompt ins Stocken.

Die Folgen der islamophoben Einstellung russischer Behörden beleuchtet Dettmering v.a. anhand ihrer zentralen Strategie zur kolonialen Eingliederung der Kaukasusvölker: Durch Kooptation einheimischer Eliten sollten zunächst diese selbst, und durch sie beeinflusst bald auch ihre Hintersassen ins Zarenreich integriert werden. Bei den Inguschen gelang dies trotz kleiner Rückschläge nicht zuletzt deshalb, weil man, von religiösen Vorurteilen unbelastet, auf die richtigen Leute setzte. Bei den Tschetschenen versuchte man dagegen, islamische Eliten zu marginalisieren, indem man sich ausschließlich auf Stammesälteste oder Clanführer stützte. Dies erst führte dazu, dass Kadis und Mullas zum Kristallisationskern des antirussischen Kampfes wurden, und legte letztlich das Fundament dafür, dass der Anführer des ebenfalls islamisch motivierten Widerstands der benachbarten Dagestaner, Imam Schamil, die tschetschenischen Berge zum Zentrum seines Staates machen konnte. Dessen Verknüpfung mit der sufischen (islamisch-mystischen) Bruderschaft der Naqschbandiyya lieferte den Russen ein noch konziseres Feindbild (Sufi = antirussischer Fanatiker) und dem Autor seinen etwas überakzentuierten Buchtitel.

Die Analyse zum kolonialen System nach Beendigung der Kaukasuskriege bestätigt in vielem die aktuelle russländische Forschung – im Westen gibt es dazu bisher kaum Literatur. Dargelegt wird u.a., wie sich Ansätze Alexanders II. und seines Statthalters A. I. Barjatinskij, modernere Integrationsstrategien im Sinne einer mission civilisatrice einzuführen, nicht durchsetzten. Die koloniale Verwaltung favorisierte vielmehr ein archaisierendes Gesellschaftsmodell und übernahm gar zahlreiche Elemente aus der staatlichen Praxis Schamils. An die Stelle des dort zentralen islamischen Rechtssystems der scharia mussten freilich die scheinbar altverwurzelten kaukasischen Gewohnheitsrechte (ādāt) treten, welche russische Ethnographen zu diesem Zweck gleichsam nochmals erfanden. Potentiell integrationsunwilliger Elemente entledigte man sich durch Massendeportation ins Osmanische Reich.

Das Schlusswort resümiert in pointierter Form nochmals alle gewonnenen Einsichten.

Gewöhnungsbedürftig ist die Praxis, kaukasische Namen und Begriffe nicht in der meist üblichen russischen oder arabischen Form, sondern aus den diversen Kaukasus­spra­chen zu transkribieren. Dies führt zu Mehrfachschreibungen, die man im Register nachschlagen muss – ein Beispiel wäre der berühmte Razziaführer Bejbulat der nun Bibold heißt. Einzelne Transkripte sind apokryph, weil die Herkunftssprache unklar bleibt.

Insgesamt erreicht die Studie ihre formulierten Ziele jedoch auf sehr originelle Art und hilft über das gewählte Exempel hinaus zu verstehen, welche Faktoren koloniale Integration gelingen oder scheitern lassen.

Clemens P. Sidorko, Basel

Zitierweise: Clemens P. Sidorko über: Christian W. Dettmering: Russlands Kampf gegen Sufis: Die Integration der Tschetschenen und Inguschen ins Russische Reich 1810–1880. Dryas, Oldenburg, 2011. 384 S., Ill., Ktn. ISBN 978-3-940855-17-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Sidorko_Dettmering_Russlands_Kampf.html (Datum des Seitenbesuchs)

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