Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 456-462

Verfasst von: Galina I. Smagina

 

Ortrun Riha, Thomas Schmuck: „Das allgemeinste Gesetz“. Karl Ernst von Baer (1792–1876) und die großen Diskurse des 19. Jahrhunderts. Aachen: Shaker, 2011. II, 299 S. = Relationes, 5. ISBN: 978-3-8440-0384-0.

Naturwissenschaft als Kommunikationsraum. Internationale Tagung, Leipzig, 29.9.–1.10.2010. Hrsg. von Ortrun Riha und Marta Fischer. Aachen: Shaker, 2011. 572. S., Abb., Tab. = Relationes, 6. ISBN: 978-3-8440-0565-3.

Regine Pfrepper: Lebendige Stoffe: Deutsch-russischer Wissensaustausch in der Physiologischen Chemie im 19. Jahrhundert. Aachen: Shaker, 2011. V, 262 S., Graph., Tab. = Relationes, 7. ISBN: 978-3-8440-0625-4.

Regine Pfrepper: Wirksubstanzen: Deutsch-russische Beziehungen in der Pharmakologie des 19. Jahrhunderts. Aachen: Shaker, 2012. V, 245 S., Abb., Graph., Tab. = Relationes, 8. ISBN: 978-3-88440-1084-8.

Marta Fischer: Lebensmuster: Biobibliographisches Lexikon der Physiologen zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert. Aachen: Shaker, 2012. V, 378 S., Abb. = Relationes, 9. ISBN: 978-3-8440-1253-8.

Botanik und Leidenschaft: Der Briefwechsel zwischen Christian Gottfried Nees von Esenbeck, Elisabeth Nees von Esenbeck und Karl Ernst von Baer. Hrsg. und eingeleitet von Ortrun Riha, Bastian Röther und Günther Höpfner †. Aachen: Shaker, 2012. XVI, 325 S., Abb. = Relationes, 10. ISBN: 978-3-8440-1454-9.

Wissensspuren: Reisen russischer Mediziner nach Westeuropa im 19. Jahrhundert. Hrsg. und eingeleitet von Regine Pfrepper und Gerd Pfrepper. Aachen: Shaker, 2012. XVI, 376 S. =Relationes, 11. ISBN: 978-3-8440-1472-3.

Die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland setzten im 17. Jahrhundert ein und sind bei allem Wechsel, allen Krisen und allen Stagnationsphasen bis in die Gegenwart lebendig geblieben. Im 19. Jahrhundert wurden Deutschland und Russland zu wichtigen Akteuren auf der europäischen wissenschaftlichen Bühne. Die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hat eine lange Tradition in der Erforschung der Wissenschaftsgeschichte beider Länder. Sie betreibt zurzeit 26 Forschungsprojekte, viele davon in enger Kooperation mit Universitäten, Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen, darunter auch mit der Russländischen Akademie der Wissenschaften.

Eines der frühesten und größten Projekte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften war J. C. Poggendorffs biographisch-literarisches Handwörterbuch der exakten Naturwissenschaften. Das Projekt Deutsch-russische Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaften lief von 1999 bis 2006 am Karl-Sudhoff-Institut für die Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. Die Forschungsergebnisse wurden in der von Dietrich von Engelhardt und Ingrid Kästner herausgegebenen Schriftenreihe im Shaker-Verlag, Aachen, publiziert. Weiterhin fanden am Karl-Sudhoff-Institut internationale wissenschaftshistorische Tagungen statt und es bestanden wissenschaftliche Kontakte zu einigen Institutionen in der damaligen UdSSR, später in Russland. Die Zusammenarbeit und die enge Kooperation der Sächsischen Akademie der Wissenschaften mit der Universität Leipzig und mit dem Karl-Sudhoff-Institut mündete in dem erfolgreichen Projektvorhaben Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin. Es ist seit Mai 2007 bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig angesiedelt und steht unter der Leitung der Medizinhistorikerin Prof. Dr. med. Dr. phil. Ortrun Riha.

Für die laufende Veröffentlichung der Projektarbeit wurde die Schriftenreihe Relationes gegründet. 2008 erschien der erste Band mit einer Edition von Quellen zu dem in St. Petersburg tätigen deutschen Chemiker und Pharmazeuten Carl Julius Fritzsche (1808–1871) und einer diskursanalytischen Untersuchung der populärphilosophischen Schriften des russischen Medizin-Nobelpreisträgers Il’ja Il’ič Mečnikov (1845–1916). Im Jahr 2009 entstanden die beiden Monographien Baltische Genesis. Die Grundlegung der Embryologie im 19. Jahrhundert und Lebensvorgänge (Band 2) und Deutsch-russische Wechselbeziehungen in der Physiologie des 19. Jahrhunderts (Band 3). 2010 wurden unter dem Titel Russische Karrieren die Biobibliographien der deutschen und russischen Leibärzte im Zarenreich vorgelegt (Band 4).

Im 5. Band der Relationes (Das allgemeinste Gesetz. Karl Ernst von Baer [1792–1876] und die großen Diskurse des 19. Jahrhunderts.Hrsg. von Ortrun Riha und Thomas Schmuck. Aachen 2011) wird Karl Ernst von Baer (1792–1876) als „der Größte unter den Naturforschern unserer Zeit, welche jemals gelebt haben“, sowie als „Humboldt des Nordens“ dargestellt. Seine Beiträge zu praktisch allen großen Themen wie Embryologie, Ökologie, Geographie, Geschichte und Anthropologie, die im 19.  Jahrhundert in Wissenschaft und Öffentlichkeit diskutiert wurden, werden in diesem Band nicht nur eingehend untersucht, sondern auch im Zusammenhang mit ihrer Aufnahme in der deutschen, russischen englischen und französischen Gelehrtenwelt dargestellt. Karl Ernst von Baer ist auch in der Medizingeschichte bekannt als Entdecker der Eizelle bei Säugetier und Mensch. Die embryologischen Überlegungen Baers wurden von den deutschen und ausländischen Wissenschaftlern unterschiedlich rezipiert. Ortrun Riha und Thomas Schmuck versuchen, den Deutschbalten und  russischen Staatsbürger von Baer als zentrale Person des Ideenaustauschs darzustellen. Ausgehend von seiner entwickelten teleologischen Grundkonzeption sowie von seiner Tendenz zu Typisierungen, werden von Baers Schriften vorgestellt. Schwerpunkte liegen auf Baers Beitrag im Streit über Materialismus und auf seiner Positionierung in den Auseinandersetzungen um den Darwinismus. Karl Ernst von Baer lebte lange Zeit in Russland und tat viel für die russische Wissenschaft. Er ging 1834 als Nachfolger seines Studienfreundes, des Embryologen Christian Heinrich Pander (17941865), an die St. Petersburger Kaiserliche Akademie der Wissenschaften und an die Universität St. Petersburg, wo er von 1834 bis 1846 als Zoologe und von 1846 bis 1862 als Anatom und Physiologe arbeitete. Hier galt er lange Zeit als „Seele der Akademie“. 1862 wurde er Berater des Erziehungsministeriums. Als Geograf ist von Baer wesentlich präsenter denn als Embryologe oder Zoologe, gerade in der russischen Wissenschaftsgeschichte. Gemeinsam mit seinem Freund und Entdeckungsreisenden Friedrich Benjamin Graf Lütke (17971882) gründete Karl Ernst von Baer im Jahre 1845 die Russische Geografische Gesellschaft. Die St. Petersburger Akademie veranlasste in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rund fünfzig Expeditionen und erwartete von ihren Mitgliedern entsprechendes Engagement. Baer widmete sich diesem ihm bisher unbekannten Aufgabefeld. Aber er blieb sich treu und suchte in der Geografie hinter dem Speziellen stets das Allgemeine, wobei ihm bemerkenswerte Entdeckungen gelangen. 1837 sammelte er Tiere und Pflanzen auf Novaja Zemlja, einer Inselgruppe im arktischen Eismeer. Auf weiteren Expeditionen erforschte er Spuren der Eiszeit an der Südküste Finnlands (1838/1839). In St. Petersburg wandte sich Baer der Anthropologie, Geographie, Ökologie und Fischereikunde zu. An den Nordmeerküsten, am Kaspischen Meer und im Kaukasus untersuchte er 1851 bis 1856 die Fischerei und die Fischbestände. Diese Untersuchungen führten 1856 zum ersten Gesetz zum Schutz der Fischbestände in Russland. Gemeinsam mit Georg von Helmersen (bzw. russ. Grigorij Petrovič Gelmersen, 18031885) gründete er 1839 die erste naturwissenschaftliche Bücherreihe Russlands, die deutschsprachigen Beiträge zur Kenntnis des Russischen Reiches und der angränzenden Länder Asiens (St. Petersburg 1839–1900, insgesamt 45 Bände). Das Verdienst von Ortrun Riha und Thomas Schmuck besteht darin, dass sie die Mehrzahl der gedruckten und ungedruckten Texte Karl Ernst von Baers vorstellen und in einen diskursiven Kontext rücken. Damit können wir Baers Gedanken über Jahrzehnte hinweg verfolgen und seine jeweiligen Positionen im zeitgenössischen Zusammenhang verstehen. Interessant und wichtig für die Forscher sind auch Literaturverzeichnis und Personenregister.

Im 6. Band der Relationes (Naturwissenschaft als Kommunikationsraum. Internationale Tagung, Leipzig, 29.9.–1.10.2010. Hrsg. von Ortrun Riha und Marta Fischer. Aachen 2011) sind die Dokumente und die Vorträge der Teilnehmer an der internationalen Tagung veröffentlicht, die von 29.09. bis zum 1.10. 2010 in Leipzig stattfand.  Die Konferenz wurde im Rahmen des Langzeitvorhabens der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland in Chemie, Pharmazie und Medizin in Kooperation mit dem Karl-Sudhoff-Institut der Leipziger Universität organisiert. An der Tagung nahmen 30 Gelehrte aus verschiedenen Länder der Welt sowie 20 Spezialisten aus Deutschland teil. Der Band besteht aus 6 Teilen. Teil 1 umfasst neben einer Einführung von Ortrun Riha und zahlreichen Grußworten einen Bericht von Heiner Kaden erzählte über die Vorgeschichte des Projektes und einen Beitrag von Dietrich von Engelhardt über die deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen um 1800 im europäischen Kontext. Matthias Middell beleuchtet die deutsch-russisch-französischen Kulturbeziehungen im 18. und 19. Jahrhundert als Feld eines triangulären Kulturtransfers. Teil 2 widmet sich Chemie und Pharmazie. Die wichtigsten Beiträge betreffen Friedrich Konrad Beilstein (1838–1906), Gustav von Bunge (1844–1920), Ivan S. Plotnikov (1878–1955) und Vladimir I. Vernadsky (1863–1945). Teil 3 behandelt Medizin und Psychologie mit vier Artikeln zur Geschichte der Psychologie (zu V. Bechterev, 1857–1927 und W. Wundt, 1832–1927; zur Russischen Psychologischen Gesellschaft; zu A. Nečaev (1870–1948) und zur Psychiatrie (Emil Kraepelin in Dorpat). Vom letzteren Fach wird die Brücke zur klinischen Medizin (Karl Johann von Seidlitz, 1798–1885, und zur Physiologie geschlagen (zu den Char’kover Schülern von Emil Heinrich Du Bois-Reymond, 1818–1896). Teil 4 ist der Hygiene als einem neuen Wissenszweig im 19. Jahrhundert gewidmet. Dieses Thema fand bei den Teilnehmer das größte Interesse. Die Vorträge galten den Themen Prävention und Behandlung von Infektionskrankheiten in der Marine Russlands, Max von Pettenkofers (1818–1901) Beziehungen zu russischen Hygienikern und Hygienediskurse und Sozialpolitik in der russländischen Provinz. Die Saratover Sanitärgesellschaft. Im Mittelpunkt von Teil 5 stehen Zoologie und Botanik: Hier werden die konzeptionellen Änderungen in der Biologie behandelt (die Rolle Otto Bütschlis, 1848–1920, in der Entwicklung der Zoologie in Russland; Christian Heinrich Pander, 1794–1865, und seine Gedanken über die Metamorphose; Karl Ernst von Baer’s Nachdenken über die Evolution und Ökologie). Der abschließende 6. Teil enthält prosopographische Untersuchungen zur St. Petersburger Veterinärmedizinischen Gesellschaft sowie zu den Verbindungen zwischen Karl Ernst von Baer und dem Leipziger Verlagshaus Voss und stellt außerdem drei biobibliographische Lexikonprojekte zur Wissenschaftsgeschichte im Zarenreich vor. Die Weitergabe von Wissen und ein Austausch von Ideen ist eine wichtige Aufgabe der Forschung. Die Konferenz hat dafür auf viele Jahre die Grundlagen geschaffen.

Der 7. Band der „Relationes“ (Regine Pfrepper: Lebendige Stoffe.  Deutsch-russischer Wissensaustausch in der Physiologischen Chemie im 19. Jahrhundert. Aachen 2011) hat die Dokumentation und Darstellung der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen den deutschsprachigen Ländern und dem Russländischen Reich auf dem Gebiet der Physiologischen Chemie im 19. Jahrhundert zum Ziel. Die erste Hälfte des Jahrhunderts war durch eine sehr rasche Entwicklung der experimentellen Wissenschaften, vor allem der organischen Chemie und der Physiologie, charakterisiert. Benachbarte Fächer wie Medizin, pathologische Anatomie, klinische und pathologische Chemie, physiologische und medizinische Chemie sowie die experimentelle Pharmakologie und die Ausbildung von Ärzten, darunter jetzt auch weiblichen, wurden zu selbstständigen Wissenschafts- und Forschungsgebieten. Die physiologische Chemie als „ Chemie des Lebens“ nimmt einen wichtigen Platz in den wissenschaftlichen Neuerungen des 19. Jahrhunderts ein. Was ist das Leben? Das Leben ist der Zustand, den alle Lebewesen gemeinsam haben und der sie von unbelebter Materie unterscheidet. Leben kann nur aus Leben geboren werden. Lebewesen werden in der Biologie als organisierte Einheiten definiert, die unter anderem zu Stoffwechsel, Fortpflanzung, Reizbarkeit, Wachstum und Evolution fähig sind. Die Biologie und die Biochemie untersuchen die heute bekannten Lebewesen und ihre Evolution sowie die Grenzformen des Lebens mit naturwissenschaftlichen Methoden. Diese Untersuchungen und Methoden waren im 19. Jahrhundert aktueller Gegenstand der Forschungen von deutschen und russischen Wissenschaftlern. Zu vielen Fragen der Wissenschaftsbeziehungen zwischen Westeuropa und Russland liegen bis heute keine ausreichenden Ergebnisse vor. Regine Pfreppers Werk „Lebendige Stoffe“  schließt eine wichtige Lücke in der Geschichte der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen. Folgende Themen werden in Band 7 der Relationes beleuchtet: die Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Paradigmas in der Physiologie, der physiologischen Chemie und der experimentellen Pharmakologie. Spezielle Aufmerksamkeit gilt den Wechselbeziehungen zwischen dem deutschsprachigen Raum und dem Russländischen Reich. In dem Buch werden anhand der Entwicklung der physiologischen Chemie die Institutionalisierung des Faches im Russländischen Reich, die Geschichte der beiden russischen Akademien (der Kaiserlichen und der Militärmedizinischen Akademie in St. Petersburg), die im 19. Jahrhundert neu gegründeten acht Universitäten (in Moskau, Dorpat, Kazan, Charkov, Kiev, Odessa, Warschau und Tomsk) beschrieben. Das Buch behandelt auch den Ideen- und Methodenaustausch zwischen den wissenschaftlichen Schulen der Physiologie beider Länder. Russland bot vielen deutschen Medizinern und Naturwissenschaftlern Arbeits-, Forschungs- und Karrieremöglichkeiten, die sie in der Heimat nicht finden konnten. Umgekehrt besuchten russische Studenten, Akademiemitglieder und Wissenschaftler ausländische Universitäten, schrieben ihre Arbeiten dort und veröffentlichten sie auf Deutsch. In Band 7 der Relationes wird daher auch auf die Rolle der russischen biochemischen Zeitschriften und Fachgesellschaften eingegangen und auf die Übersetzungen deutschsprachiger Arbeiten ins Russische oder russischsprachiger Arbeiten ins Deutsche. Besonders dankenswert ist, dass Regine Pfrepper in ihrem Buch ein Verzeichnis der Biobibliographien und der Arbeiten derjenigen Chemiker, Pharmazeuten und Mediziner zur Verfügung stellt, die bei diesen Kontakten eine wichtige Rolle spielten.

Band 8 der Relationes (Regine Pfrepper: Wirksubstanzen. Deutsch-russische Beziehungen in der Pharmakologie des 19. Jahrhunderts. Aachen 2012) stellt sowohl eine Ergänzung zum Themenkomplex Pharmakologie dar als auch ihren Abschluss. Die Autorin bietet einen Überblick über die Entwicklung der Pharmakologie in Russland als spezielle medizinische Disziplin. Die Entwicklung der experimentellen Pharmakologie und ihre Institutionalisierung an den Universitäten im Russischen Reich begann in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Statut für die russischen Universitäten von 1863, das eine Reform der Ausbildung von Medizinern, darunter auch die Ausbildung von Frauen, einleitete. Als Wiege der experimentellen Pharmakologie im Russländischen Reich kann man Dorpat (heutige Tartu) bezeichnen. Dorpat gehörte damals zu Russland, doch war die Universität deutschsprachig. Im Jahre 1847 wurde der Baltendeutsche Rudolf Richard Buchheim (1820–1879) als Professor der Pharmakologie, Diätetik und Geschichte der Medizin an die Dorpater Universität berufen. Buchheims Dorpater Lehrstuhl war unter anderem der Arzneimittellehre gewidmet. Damit meinte man damals das gesamte Wissen über die Eigenschaften und die therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten jeglicher Art von Stoffen. Buchheim richtete in Dorpat im Keller seines Wohnhauses und mit seinem eigenen Geld ein pharmakologisches Labor ein. 1860 ersetzte es die Fakultät durch ein geräumiges neues Pharmakologisches Institut. Sein Nachfolger in Dorpat Oswald Schmiedeberg (1838–1921) hat Buchheims Tätigkeit so charakterisiert:So ist Buchheim der Gründer des ersten pharmakologischen Instituts, welches auch zwei Dezennien hindurch fast das einzige seiner Art geblieben ist, da es an anderen Universitäten im wesentlichen nur pharmakognostische Sammlungen, nicht aber Institute für experimentell pharmakologische Arbeiten gab. [] Auf diesem günstigen Boden entwickelte sich Buchheims Tätigkeit, die zu einer Arzneimittellehre auf experimenteller Grundlage führte.“ Seine Experimente führte Buchheim mit Doktoranden durch, 90 an der Zahl in seiner Dorpater Zeit. Die Dissertationen waren zum Teil noch lateinisch abgefasst, und ihr Niveau war relativ hoch. Die Arbeit von Regine Pfrepper gibt eine ausreichende Information über die in Russland gegründeten Lehrstühle für Pharmakologie an den Universitäten Moskau, Dorpat, Kazan, Charkov, Kiev, Odessa, Warschau, Tomsk und Saratov. Außerdem beschreibt es die Geschichte der Mediko-chirurgischen Militärmedizinische Akademie in St. Petersburg. Sehr interessant sind sowohl die Bibliographien der russischen und deutschen Pharmakologen, Physiologen, physiologischen Chemiker, die vor ihrer Berufung zu Lehrstuhlleitern immer einen wissenschaftlichen Arbeitsaufenthalt in den deutschsprachigen Ländern absolvierten, bevor sie an den medizinischen Lehranstalten Russlands tätig wurden, wie auch die Verzeichnisse der Übersetzungen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten, Fach- und Lehrbücher und sonstigen Veröffentlichungen. Das besondere Verdienst der Autorin besteht darin, dass sie vorwiegend deutsche und russische gedruckte und ungedruckte Primärquellen des 19. Jahrhunderts benutzt. Das Verzeichnis findet sich im Abschnitt „Literatur“.

Der 9. Band der Relationes (Marta Fischer: Lebensmuster. Bibliographisches Lexikon der Physiologen zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert. Aachen  2012) stellt die wichtigen Forscher dar, die dazu beigetragen haben, die deutsch-russischen Beziehungen auf dem Gebiet der Physiologie im 19. Jahrhundert zu entwickeln und zu stärken. Das Lexikon stellt die Lebensläufe, Publikationen und wichtigsten Forschungsergebnisse von 100 Wissenschaftlern dar. Die hier aufgeführten Biobibliographien ergänzen die Informationen des 3. Bandes der Relationes von 2009 zu den deutschsprachigen Publikationen von 37 russischen Physiologen und deren biographischem und institutionellem Hintergrund. Eine der wichtigsten Figuren unter den berühmten deutschen Physiologen, zu denen russische Wissenschaftler auf ihren Bildungsreisen durch Europa häufig Kontakt suchten, war Karl Ludwig (1816–1895); auf russischer Seite stechen Ivan P. Pavlov (1849–1936) und Ivan M. Sečenov (1829–1905) hervor. Ivan P. Pavlov ist der Begründer der größten modernen Physiologenschule, Schöpfer der materialistischen Theorie der höheren Nerventätigkeit, Entdecker des bedingten Reflexes (Pavlov-Reflex), Nobelpreisträger auf den Gebieten der Medizin und Physiologie. Man kann I. P. Pavlov als eine Wunderbegabung bezeichnen, was im Lexikon perfekt dargestellt ist. Ivan M. Sečenov ist ein berühmter Schüler des deutschen Forschers Karl Ludwig. Auf dem Umschlag des Buches ist er neben Karl Ludwig abgebildet. Die Struktur des Bandes ist gut durchdacht. Regelmäßig aufgeführt sind Ort und Datum von Geburt und Tod, Eltern, Ehe, Kinder, Ausbildung, Karriere, Arbeitsweise  und Publikationen, was im Ergebnis die Konturen eines ‚typischen‘ russischen Physiologen des 19. Jahrhunderts ergibt und vor diesem Hintergrund die Einordnung individueller Leistungen herausragender Personen erst ermöglichen.

Band 10 der Relationes (Botanik und Leidenschaft. Der Briefwechsel zwischen Christian Gottfried Nees von Esenbeck, Elisabeth Nees von Esenbeck und Karl Ernst von Baer. Hrsg. von Ortrun Riha, Bastian Röther und Günther Höpfner. Aachen 2012)  entstand in Kooperation mit der Nees von Esenbeck-Arbeitsstelle der Leopoldina (heute Nationale Akademie der Wissenschaften, Halle). Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck (1776–1858) war wie Karl Ernst von Baer ein große Name in der Wissenschaftsgeschichte. Er war Botaniker und langjähriger Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Im Band sind 51 Briefe versammelt. Es handelt sich um fünf Briefe von Baers an Nees (1776–1858), ebenso viele sind von Elisabeth Nees (1783–1857) an Baer gerichtet, aber die Mehrzahl der Dokumente (etwa 42 Briefe) hat Nees von Esenbeck an Baer geschrieben. Die Briefe geben einen Einblick in Nees’ bewegtes Privatleben und illustrieren seine wissenschaftliche Arbeit an der Rhein-Universität in Bonn, die organisatorischen Abläufe in Nees’ ersten Jahren als Präsident der Leopoldina sowie Probleme der wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Eine Besonderheit des Bandes ist die Einbeziehung von Bildern zur Erläuterung von Textstellen.

In Band 11 der Relationes (Wissensspuren. Reisen russischer Mediziner nach Westeuropa im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Regine Pfrepper und Gerd Pfrepper. Aachen 2012) wird eine Auswahl von Reiseberichten von prominenten Vertretern der drei Disziplinen Physiologie, Physiologische Chemie und Pharmakologie vorgelegt. Begabte Absolventen russischer Universitäten, die für eine Lehrtätigkeit als Dozenten oder Professoren vorgesehen waren, wurden vor ihrer Berufung an eine Universität in Russland für zwei oder drei Jahre auf Staatskosten nach Westeuropa delegiert, um sich in ihrem Fach weiterzubilden. Sie waren verpflichtet, ans Ministerium für Volksaufklärung Reiseberichte zu senden. Diese Reiseberichte dienten der Kontrolle der Reisenden und lieferten außerdem Informationen über den Entwicklungsstand der betreffenden Disziplin. Die Reiseberichte der russischen Mediziner, die in diesem Band zusammengestellt sind, umfassen die Jahre 1833 bis 1913, umspannen also 80 Jahre. In diesem Zeitraum hat die russische Medizin eine beachtliche Entwicklung durchgemacht. Sie brachte zwei Nobelpreisträger hervor, Ivan Petrovič Pavlov (1849–1936) und Ilja Ilič Mečnikov (1845–1916). Beide haben in Deutschland eine Weiterbildung genossen, I. P. Pavlov bei den Physiologen Rudolf Heidenhain (1834–1897) in Breslau und Karl Ludwig (1816–1895) in Leipzig, I. I. Mečnikov bei dem Zoologen Rudolf Leuckart (1822–1898) in Gießen. Aber ihre Reiseberichte sind in diesem Band nicht aufgeführt. Die Instruktionen, Berichte ans Ministerium der Volksaufklärung Russlands, Verwaltungsschriftwechsel, Autobiographien sowie Erinnerungen von russischen Medizinern, die im 19. Jahrhundert zu ihrer Weiterbildung nach Westeuropa reisten, liegen teils in handschriftlicher, teils auch in gedruckter Form vor. Die ungedruckten Quellen werden in russischen und ukrainischen Archiven aufbewahrt (Zentrales Historisches Archiv in Moskau, Russländisches Staatliches Historisches Archiv in St. Petersburg, Zentrales Staatliches Historisches Archiv der Ukraine in Kiev). Sie wurden von den Autoren aus dem Russischen übersetzt. Die gedruckten Quellen stammen aus dem 19. Jahrhundert und sind in deutschen Bibliotheken zugänglich. Die Reiseberichte, auch Briefe und autobiographische Dokumente, die die Reiseeindrücke von russischen Medizinern und Naturforschern wiedergeben, sind eine wichtige und wertvolle Quelle über den Stand der Wissenschaft, der Ausbildungs- und Forschungssituation, den Stand von Lehre und Forschung.

Die Publikationen der Reihe Relationes (Bände 5–11) zu den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin sind als eine Gesamtheit zu betrachten. Sie sollen Forschungslücken sowohl zu den bilateralen Kontakten als auch zu strukturellen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Deutschland und Russland bei der Entstehung der neuen Fächer schließen. Internationale Beziehungen sind substantiell für den Fortschritt der Naturwissenschaften und der Medizin. Das gilt für die Entwicklung während der Neuzeit und auch weiterhin für die Gegenwart und Zukunft. Die Erforschung historischer Erfahrungen bei wissenschaftlichen Beziehungen in Chemie, Pharmazie und Medizin zwischen Deutschland und Russland hilft, verschüttete und verlorene Seiten unserer gemeinsamen Geschichte wiederherzustellen und wird hoffentlich zur fruchtbringenden Entwicklung der deutsch-russischen wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen beitragen.

Galina I. Smagina, Sankt Petersburg

Zitierweise: Galina I. Smagina über: Relationes 5-11. Aachen: Shaker, 2011-2012, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Smagina_SR_Dt-russ_Wissenschaftsbeziehungen_19_Jh.html (Datum des Seitenbesuchs)

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