Simon Ertz Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem. Eine Untersuchung der Methoden, Strategien und Ziele ihrer Ausnutzung am Beispiel Norilsk, 1935–1953. Verlag Duncker & Humblot Berlin 2006. 273 S., Tab., Abb. = Zeitgeschichtliche Forschungen, 31.

Zur Erschließung und Ausbeutung des Nordens der Sowjetunion schuf die sowjetische Führung zu Beginn der dreißiger Jahre ein System aus gewaltigen Wirtschaftskombinaten und mit ihnen verbundenen Lagerkomplexen. Bis zur Auflösung des Lagersystems in den Jahren nach Stalins Tod waren Hunderttausende Zwangsarbeiter in diesen Lagern interniert und wurden zum Abbau der gewaltigen Bodenschätze, zur Gewinnung von Energie und zur Errichtung von Infrastruktur gezwungen. Im Kombinat und Lager Noril’sk (1935–1956), gelegen im unwirtlichen Norden Sibiriens, mussten die Häftlinge den dortigen Reichtum an Nickel und weiteren Buntmetallen fördern sowie die dafür notwendige Infrastruktur errichten. Die Zwangsarbeit in Noril’sk ist Gegenstand der als erweiterte Fassung seiner Magisterarbeit vorgelegten Studie von Simon Ertz. Auf der Grundlage einer Betrachtung der Entwicklung von Kombinat und Lager widmet sich Ertz ausführlich dem Arbeitskräftebestand sowie der normativen und faktischen Regulierung der Zwangsarbeit. Gestützt auf eine breite Quellenanalyse von Akten des NKVD-MVD, zumeist statistischen Charakters, kann er dabei Aussagen zur Anzahl der Häft­linge, zu ihren Einsatzbereichen, ihrer Arbeits­zeit, zu Maßnahmen zur Erhöhung ihrer Ar­beitsproduktivität und zur Häftlingssterblichkeit treffen. So bietet Ertz einen tiefen Einblick in die Methoden und Strategien eines stalinistischen Zwangsarbeitsprojektes, der durch Schilderungen ehemaliger Zwangsarbeiter anschaulich ergänzt wird. Indem er beansprucht, die erste substantielle Studie zur stalinistischen Zwangs­arbeit vorzulegen, vernachlässigt er jedoch zahlreiche russische Publikationen und belastet seine hervorragende Magisterarbeit unnötig.

Die Art und Weise, wie die gewonnenen statistischen Daten von Ertz interpretiert und aufbereitet werden, ist zum Teil problematisch. Der vollständige Abdruck seiner methodischen Vorüberlegungen beeinträchtigt die Lesbarkeit seines Textes. Das ausführliche Referieren von Datenmaterial schafft darüber hinaus die irreführende Vorstellung, das Geschehen in den Lagern sei vor allem durch exakte Zahlen analytisch zu durchdringen. Dies gilt auch für die Darstellung von administrativen Strukturen und Zugehörigkeiten des Kombinates, die in Organisationsdiagrammen veranschaulicht werden. Damit wird eine Eindeutigkeit behauptet, die der Kom­plexität, den zahllosen Kompetenzüberschneidungen und permanenten Strukturveränderungen nicht gerecht wird.

Uneingeschränkt lässt sich hingegen der abschließenden Zusammenfassung zu Strategie und Methoden der Zwangsarbeit zustimmen, in der Ertz konstatiert, dass der NKVD-MVD den Ansatz verfolgte, dass Häftlinge „in erster Linie eine exogen zur Verfügung gestellte Ressource“ (S. 216) seien, die zu jeder Zeit die Hauptlast der Produktion tragen und deren „Effektivität“ durch diverse Instrumente zur Steigerung ihrer Produktivität gehoben werden sollte. Erhebliche Zweifel sind jedoch bei der These von der außergewöhnlichen „betriebswirtschaftlichen Erfolgs­geschichte“ (S. 223) angebracht, der zufolge angeblich der „Einsatz von Zwangsarbeit half, dieses Vorhaben kostengünstig und rasch zu realisieren“ (S. 227). Vor dem Hintergrund der enormen wirtschaftlichen Verluste, die die Zwangsarbeiterprojekte der UdSSR generell gebracht haben, drängt sich die Frage nach der Grundlage dieser These auf. Simon Ertz stützt sich vor allem, und über weite Teile ausschließlich, auf statistische Angaben der Lagerhauptverwaltung GULAG (Aktenfond R-9414 im GARF). Dies gilt auch für seine Angaben zur Häftlingssterblichkeit und zu den vergleichsweise besseren Lebensbedingungen der Häftlinge in Noril’sk. Wie russische Historiker im Abgleich mit lokalen Daten belegen konnten (z.B. L.I. Gvozdkova), sind die statistischen Daten des GULAG jedoch stark geschönt – was an Zahlenkolonnen in die Lagerhauptverwaltung gesandt wurde, entsprach nur zu einem Teil den Realitäten vor Ort. Die lokalen Quellen und die Arbeiten der heute dort aktiven Historiker hat Ertz jedoch leider nicht herangezogen.

Wenn sich seine These von der Sonderstellung von Noril’sk im Abgleich mit weiteren Quel­len jedoch tatsächlich bewahrheiten sollte, so müsste nach den Ursachen dieser „Ausnahme­stellung“ gefragt werden. Hier müssten kom­plexere Faktoren, wie etwa die Rolle der lokalen Leitung und ihre Beziehung zum machtpolitischen Zentrum in Moskau (vor allem unter der Leitung von A.P. Zavenjagin) in die Analyse mit­einbezogen werden.

Mirjam Sprau, Frankfurt a.M./Bremen

Zitierweise: Mirjam Sprau über: Simon Ertz Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem. Eine Untersuchung der Methoden, Strategien und Ziele ihrer Ausnutzung am Beispiel Norilsk, 1935–1953. Verlag Duncker & Humblot Berlin 2006. 273 S., Tab., Abb. = Zeitgeschichtliche Forschungen, 31. ISBN: 978-3-428-11863-2, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Sprau_Ertz_Zwangsarbeit.html (Datum des Seitenbesuchs)