Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 684-686

Verfasst von: Stephan Stach

 

Paul Brykczynski: Primed for Violence. Murder, Antisemitism, and Democratic Politics in Interwar Poland. Madison, WI: University of Wisconsin Press, 2016. XVII, 215 S., 21 Abb. ISBN: 978-0-299-30700-4.

Kaum eine Woche im Amt, fiel der erste polnische Präsident Gabriel Narutowicz am 16. Dezember 1922 einem Attentat zum Opfer. Der Mord folgte auf eine antisemitisch unterlegte Diffamierungskampagne der in der Präsidentschaftswahl unterlegenen Nationaldemokraten (ND). Diese warfen Narutowicz vor, mit „nichtpolnischen“, insbesondere „jüdischen“ Stimmen gewählt worden und daher nicht ausreichend als polnisches Staatsoberhaupt legitimiert zu sein. Diese Kampagne und das darauffolgende Attentat auf Narutowicz legten offen, wie heikel die Frage nach der Rolle der nationalen Minderheiten im polnischen Staat war. Die junge Demokratie erlebte ihre erste schwere Krise.

Bislang herrschte die Ansicht vor, das Attentat und die dadurch ausgelöste Staatskrise hätten eine Niederlage der polnischen Nationaldemokratie bedeutet. Schließlich distanzierte sie sich rasch von der Tat und schwieg, als bei der Neuwahl erneut der Kandidat siegte, der die Unterstützung des Blocks der nationalen Minderheiten gewonnen hatte. Paul Brykczynski legt nun eine Studie vor, die in sechs Kapiteln sowohl die politische Ausgangslage und Begleitumstände, die zum Attentat führten, als auch dessen unmittelbare, mittel- und langfristigen Folgen für das politische System der Zweiten Polnischen Republik eingehend untersucht. Insbesondere bei der Bewertung der politischen Folgen nimmt Brykczynski eine Neubewertung vor und legt dar, dass der Mord an Narutowicz für die Nationaldemokraten keine politische Niederlage bedeutete, sondern mittel- und langfristig gar zur allgemeinen Akzeptanz ihrer Forderung nach einer „polnischen Mehrheit“ bei den polnischen Parteien führte.

Brykczynski schildert plastisch das Zustandekommen und den Verlauf der bis dahin schwersten Krise der jungen Polnischen Republik. Diese, so zeigt er auf, war das Ergebnis einer langen Folge von ressentimentgesteuertem Populismus, politischer Fehlkalkulationen aller politischen Lager sowie fehlender Entschlossenheit oder klammheimlicher Zustimmung der Sicherheitsorgane zur nationaldemokratischen Politik. Die Nationaldemokraten nutzten, so Brykczynski, schon im Vorfeld der Parlamentswahlen antisemitische Propaganda, um einerseits ihre programmatische Schwäche zu überdecken. Andererseits setzten sie so die sozialistische PPS, die linke Bauernpartei Wyzwolenie (Befreiung) und die rechte Bauernpartei Piast unter Druck, nach den Wahlen nicht mit dem Block der nationalen Minderheiten zu kooperieren. Dessen unerwartet gutes Abschneiden bei den Parlamentswahlen hatte die Minderheiten zum Zünglein an der Waage werden lassen, da weder Nationaldemokraten noch Mitte-Links-Parteien über eine Mehrheit verfügten. Dies trat bei den Präsidentenwahlen offen zu Tage. Die Nationaldemokraten hatten sich ihre Chance verbaut, weil sie mit Maurycy Zamojski einen Kandidaten aufgestellt hatten, der für die einzige Partei, die möglicherweise mit ihnen hätte stimmen können, die Bauernpartei Piast, als Großgrundbesitzer unwählbar war. Die linken Parteien wiederum wurden fünf Tage vor der Wahl von der Nachricht überrascht, dass der bisherige „Staatschef“ Józef Piłsudski entgegen allen Erwartungen nicht kandidierte. Da sich die Parteien in der Eile nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten, schickte jede einen eigenen ins Rennen. Im fünften Wahlgang setzte sich eher zufällig der Kandidat der Wyzwolenie, der bisher wenig bekannt Außenminister Gabriel Narutowicz, durch, da er auch die Unterstützung des Blocks der nationalen Minderheiten erhalten hatte.

In seiner Analyse sieht Brykczynski die politischen Ränkespiele der verschiedenen Parteiführer und deren mangelnden Willen zur Kooperation als Ausgangspunkt der politischen Krise. Doch wenngleich deren Verantwortung kaum von der Hand zu weisen ist, stellt sich die Frage, warum der Autor Piłsudski hier völlig außen vor lässt, obwohl dieser mit seinem kurzfristigen und überraschenden Verzicht auf die Kandidatur erheblichen Anteil am Entstehen der Krise hatte.

Die Nationaldemokraten entfesselten in den wenigen Tagen bis zur Amtseinführung Narutowiczs eine hasserfüllte Kampagne gegen diesen, die nahtlos an ihre antisemitische Rhetorik aus dem Wahlkampf anknüpfte. Die Folge waren wiederholte Ausschreitungen ihrer Anhänger, die am Tag der Inauguration Narutowiczs nicht nur Abgeordnete linker und jüdischer Parteien tätlich angriffen, sondern beinahe auch über den Präsidenten hergefallen wären. Dass die Menge im Zaum gehalten werden konnte, war, wie Brykczynski eindrücklich schildert, nicht das Verdienst der eigentlich dafür zuständigen Polizei, sondern organisierter Arbeitertrupps, die die PPS mobilisiert hatte.

Erst nach dem Mord an Narutowicz, so macht Brykczynski deutlich, gelingt es den Parteiführern der PPS, Ignacy Daszyński, und der Wyzwolenie, Stanisław Thugutt, sowie dem Sejm-Marschall Maciej Rataj, durch entschlossenes Agieren der Situation Herr zu werden und einen von vielen erwarteten Putsch der Anhänger Piłsudskis zu verhindern. Auch die Nationaldemokraten brechen ihre Agitation umgehend ab und verurteilen den Mord am Präsidenten. Doch, und dies ist eines der zentralen Ergebnisse der Studie, diese Verurteilung ist keineswegs einer Einsicht in die politische Mitverantwortung für die Tat geschuldet gewesen, sondern war rein taktisch motiviert. Schon wenige Wochen nach dem Mord fanden sich, wie Brykczynski darlegt, zahlreiche Artikel in der nationaldemokratischen Presse, die den Präsidentenmörder zumindest moralisch ins Recht setzten. Auch die Beerdigung des zum Tode verurteilten und hingerichteten Mörders gerät zur politischen Demonstration, an der 10.000 Anhänger der Nationaldemokratie teilnehmen.

Dennoch mussten sich die Nationaldemokraten damit abfinden, dass auch bei der Wiederholung der Präsidentenwahl nicht ihr Kandidat, sondern jener der Mitte-Links-Parteien siegte, da es ihm gelang, die Stimmen der nationalen Minderheiten zu gewinnen. Viel entscheidender als die Besetzung des Präsidentenamtes war aber, so die Hauptthese Brykczynskis, dass die polnischen Parteien bei der anstehenden Regierungsbildung und darüber hinaus das nationaldemokratische Postulat der „polnischen Mehrheit“ akzeptierten und keine Koalitionen mit dem Block der nationalen Minderheiten eingingen. An dieser Stelle schießt der Autor jedoch etwas über das Ziel hinaus, wenn er die gescheiterte staatsbürgerliche Integration der nationalen Minderheiten bis zum Ende der Zweiten Republik im Jahr 1939 zur Bestätigung seiner These anführt. Zwar kann er schlüssig darlegen, dass sich die polnischen Parteien links der Nationaldemokratie von der diskursiven Macht der „polnischen Mehrheit“ einschüchtern ließen. Doch ignoriert seine Diagnose nicht nur die politische Disparität des Blocks der nationalen Minderheiten, die einer Regierungsbeteiligung auch ohne „polnische Mehrheit“ im Wege gestanden hätte; sie verkennt auch die Bemühungen der polnischen Regierungen nach Piłsudskis Putsch im Jahr 1926, eine Einigung mit den Minderheiten herbeizuführen. Schließlich übersieht er die – letztendlich gescheiterten – Bemühungen der nationaldemokratischen Regierung unter Władysław Grabski vom Jahre 1925, eine auf Zugeständnissen beruhende Kooperation mit den jüdischen Abgeordneten zu erreichen. Obwohl Brykczynski in diesem Punkt die Belastbarkeit seiner These etwas überschätzt, schmälert dies den Wert der Arbeit nicht. Seine Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der polnischen Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg und der Debatte über nationale Minderheiten in der Zweiten Republik.

Stephan Stach, Prag

Zitierweise: Stephan Stach über: Paul Brykczynski: Primed for Violence. Murder, Antisemitism, and Democratic Politics in Interwar Poland. Madison, WI: University of Wisconsin Press, 2016. XVII, 215 S., 21 Abb. ISBN: 978-0-299-30700-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stach_Brykczynski_Primed_for_Violence.html (Datum des Seitenbesuchs)

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